Filmtipp #19: Die Göttin

Die Göttin

Originaltitel: The Goddess; Regie: John Cromwell; Drehbuch: Paddy Chayefsky; Kamera: Arthur J. Ornitz; Musik: Virgil Thomson; Darsteller: Kim Stanley, Lloyd Bridges, Steven Hill, Betty Lou Holland, Patty Duke. USA 1958.

The Goddess

Der Kritiker Rex Reed sagte über Kim Stanley in diesem Film: »This is the greatest performance ever been captured on film. Watch this movie carefully, scene by scene, and you will not believe the things she does as an actress, and that’s film which she hated.«
     Ob es nun die beste Leistung einer Schauspielerin war, wage ich nicht zu beurteilen, dafür hab ich zu wenige Filme gesehen. Auf jeden Fall ist es eine der besten, die ich in meinem Leben gesehen habe. Keine mir bekannte Schauspielerin, nicht einmal Vanessa Redgrave oder Meryl Streep, hat auch nur annähernd eine so starke Präsenz wie Stanley. Ihr Spiel ist so intensiv und beängstigend, dass man den Film praktisch nur Abschnitt für Abschnitt sehen kann, ohne zu verzweifeln. Das habe ich wahrlich noch nicht erlebt. Huppert in »La pianiste« (Regie: Michael Haneke), die Schneider in »L’important c’est d’aimer« (Regie: Andrzej Zulawski), meinetwegen auch Jessica Lange in »Frances« (Regie: Graeme Clifford) — keine dieser Leistungen hält dem stand, was Kim Stanley in »The Goddess« den Zuschauer erleben lässt.

Der Film selbst ist nicht besonders gut gealtert, er ist altbacken und etwas zu redselig. Er wirkt ein bisschen, als hätte sich Ingmar Bergman nach Amerika verirrt. Stanley spielt ein Mädchen, das, unter erbärmlichen Umständen aufgewachsen, von einer Hollywood-Karriere träumt. Dabei geht es ihr weniger um das Spielen, sondern um den Respekt, die Anerkennung und die lebenslang vermisste Liebe. Tatsächlich schafft sie, obwohl keine klassische Schönheit, den Sprung und wird dank guter Verbindungen eine der Göttinnen der Traumfabrik. Doch das bewahrt sie nicht vor dem selbstzerstörerischen Absturz, der schon lange vor dem Beginn ihrer Karriere begonnen hatte. Am Ende muss sie feststellen, dass all ihre Entbehrungen umsonst waren. Einsam steht sie vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens: zwei kaputte Ehen, Alkohol- und Tablettensucht, Nervenzusammenbrüche, Selbstmordversuche und nicht zuletzt die Entfremdung ihrer eigenen Tochter, die sie der Karriere wegen verließ, waren der Preis für das vermeintliche Glück.

Stanley war bei Drehbeginn zu diesem, ihrem ersten Film 32 Jahre alt. Die Handlung erstreckt sich über zwanzig Jahre, sie spielt die Göttin im Alter von 16 bis circa 40 Jahren. Als Teenager wirkt sie trotz aller Bemühungen nicht ganz glaubwürdig. Zu dem Zeitpunkt hatte sie selbst bereits drei Kinder, ihre Formen waren dementsprechend üppig, das Gesicht schon gereift. Doch ihr Gang, ihre Sprache, ihre Gesten waren die einer 16jährigen. Allein der Einsatz ihrer Stimme: Im Verlauf der Filmhandlung wird sie zunehmend tiefer, auch brüchiger. In einer Zeit und in einem Medium, wo Alterungsprozesse normalerweise durch Licht und Make-up veranschaulicht wurden, beschränkte sich Stanley allein auf ihre Schauspielkunst. Ihre Szenen als Teenager werden noch heute in Schauspielschulen auf der ganzen Welt den Studenten vorgeführt.
     Sie selbst hasste den Film, boykottierte ihn und war nicht mal im Land, als er seine Uraufführung erlebte — laut ihrem Biographen Jon Krampner der einzige Grund, weshalb sie keinen Oscar bekam. Sie drehte in größeren Abständen nur noch drei weitere Filme, für zwei wurde sie für einen Academy Award vorgeschlagen.
     Ironischerweise weist »The Goddess« zahlreiche Parallelen zu Stanleys eigenem Leben auf, obwohl sich Drehbuchautor Paddy Chayefsky an dem der Monroe orientierte. Stanley musste nach einem Zusammenbruch im Alter von 40 Jahren ihre Bühnenkarriere aufgeben und trank sich die kommenden 36 Jahre praktisch zu Tode. Den Zusammenbruch schreiben viele ihrer Unfähigkeit zu, mit ihrem Talent umzugehen — es hat sie buchstäblich leergesaugt, aufgefressen, ausgebrannt, überwältigt. Die Strasberg Methode, die viele andere große Schauspieler (James Dean, Montgomery Clift, auch Brando) zugrunde richtete, trug ihren Teil dazu bei. Elizabeth Ashley konstatierte in der Dokumentation »Broadway: The Golden Age« (Regie: Rick McKay), dass es unmöglich sei, für immer mit einem solchen Talent zu leben: »You can only burn so bright without burning out. You can’t burn the way Kim did and last; it was just so extraordinary!« 

»The Goddess« trieb mir, wie die anderen Arbeiten von Kim Stanley auch, die Tränen in die Augen. Nicht wegen des Sujets — mit Hollywood wurde in anderen Filmen schonungsloser und interessanter abgerechnet —, sondern einzig wegen ihrer Brillanz, an die — ich wiederhole es! — keine andere bis heute herangekommen ist. Die Frau war eine Naturgewalt! Du sitzt da, kannst die Augen nicht abwenden vor Ehrfurcht und Ungläubigkeit, und es rollen die Tränen. (»You will not believe the things she does as an actress!«)
     Ich habe mir seinerzeit noch für 75 Euro (!) ein über 20 Jahre altes, gebrauchtes VHS-Tape aus den USA kommen lassen, da der Film zuletzt vor etwa 30 Jahren im deutschen Fernsehen lief und eine DVD-Veröffentlichung nicht in Aussicht war. Inzwischen ist der Film, wenn auch nur in den Staaten, auf DVD erschienen. All jenen, die sich für die Schauspielerei interessieren, möchte ich zum Kauf der »Göttin« raten.

André Schneider