Filmtipp #1: Das Haus der Schatten

Nach reiflichen Überlegungen kam ich zu dem Entschluss, dass es eine gute Sache wäre, diese Plattform auch für Filmbesprechungen zu nutzen. In regelmäßigen Abständen werde ich Euch nun einige meiner Lieblingsfilme vorstellen, in der Hauptsache wird es sich dabei um vergessene Perlen handeln, die ich aus ihren staubigen Schatztruhen holen und Euch zeigen möchte. Den Anfang macht heute eine ungewöhnliche englische Produktion von Alastair Reid.

Das Haus der Schatten

Originaltitel: The Night Digger; Regie: Alastair Reid; Drehbuch: Roald Dahl; Kamera: Alex Thomson; Musik: Bernard Herrmann; Darsteller: Patricia Neal, Pamela Brown, Nicholas Clay, Graham Crowden, Jean Anderson. GB 1971. IMDb.

The Night Digger

A lonely woman in a decaying mansion…
     Ihr Glück dauerte nur fünf Monate. Dann erlitt die junge Maura Prince einen Schlaganfall. Der Mann, den sie liebte und der sie heiraten wollte, verließ sie daraufhin, und sie wurde von ihrer (Adoptiv-)Mutter gesund gepflegt. Zwanzig Jahre später leistet sie dafür immer noch Abbitte. Inzwischen weit über 40, pflegt sie die garstige, blinde Frau aufopferungsvoll und demütig. Auf ein eigenes Leben hat sie seit ihrer Krankheit verzichtet. Die beiden Frauen leben in einem riesigen Haus, das nach und nach vor die Hunde geht, weil sich niemand um die Instandhaltung des Anwesens kümmert.

A young stranger on a big, black bike.
     Eines regennassen Tages tritt der blutjunge Billy Jarvis in das Leben von Maura und ihrer Mutter. Sein mächtiges, altes Motorrad hält auf dem pompösen, verwilderten Anwesen. Er bittet die alte Mrs. Prince um einen Job: Unterkunft und Verpflegung für Gartenarbeit und Instandsetzung des Hauses. Mrs. Prince, die sehr wohl merkt, dass ihre Tochter den jungen Mann nicht sonderlich mag, nimmt den Fremden bei sich auf — vor allem aus Bosheit, um Maura zu piesacken.
     Billy ist ein merkwürdig verschlossener, trauriger Mensch, der nicht gerne unter Menschen ist: »Wenn ich mit in die Kirche komme, passiert was, das weiß ich.« — Schon bald erfährt der Zuschauer, dass er ein gesuchter Sexualmörder ist, der Frauen in ihren Schlafzimmern auflauert, sie missbraucht, tötet und auf Autobahnbaustellen vergräbt, die am nächsten Tag asphaltiert werden. Und rasch entwickelt Maura eine tiefe Zuneigung zu dem Mann, der ihr Sohn sein könnte. Obwohl sie ahnt, dass ihr Angebeteter schwer gestört und gefährlich ist, lässt sie sich auf diese Liebe ein — und wächst über sich hinaus…

Als ich »The Night Digger« als Teenager zum ersten Mal sah, fand ich das Werk ausgesprochen bizarr. Damals kannte ich Roald Dahl noch nicht oder zumindest nicht bewusst. Die schrägen Kameraeinstellungen, die zum Teil merkwürdig unpassenden Bildausschnitte, die an Hitchcock-Klassiker erinnernde, aufwühlende Musik Bernard Herrmanns, die für 1971 sehr gewagte Darstellung von Sexualität und Gewalt und vor allem diese schwer verdauliche Liebesgeschichte waren ein wenig zu viel für mich, was meiner Faszination für diesen Film keinen Abbruch tat.

Das Grundmotiv von »The Night Digger« erinnert stark an »Night Must Fall« (Regie: Karel Reisz), wo ein »netter« Geisteskranker (ein genialer Albert Finney!) sich in einem Dreimäderlhaus einnistet. Auch hier lässt sich eine alte Frau (Mona Washbourne) auf ein perverses Spiel mit der Angst ein, als sie bemerkt, dass mit dem jungen Mann was nicht stimmt.
     »The Night Digger« aber bietet mehr und greift tiefer. Der Thriller wird in der zweiten Hälfte mehr und mehr zum Drama. Die verliebte Maura glaubt, Billy mit ihrer Liebe »heilen« zu können. Auf seinem Motorrad brennen die beiden nach Schottland durch. Eine Zeitlang ist alles sehr schön. Billy möbelt ein altes Landhaus auf, das Paar macht Spaziergänge am Strand und züchtet Schafe. Doch der schwer traumatisierte Billy — in Rückblenden, die an die düsteren Erzählungen Poes erinnern, erfahren wir, dass dieser als Junge von mehreren Frauen sexuell missbraucht wurde und im späteren Verlauf seines Lebens noch einiges an Erniedrigungen einstecken musste — kann seinen Dämonen nicht dauerhaft entkommen. Es kommt zur Tragödie. Alastair Reid und Drehbuchautor Dahl wagten sich mit dieser Thematik seinerzeit weit aus dem Fenster. Zu weit vielleicht, denn »The Night Digger« war bei seiner Uraufführung ein Reinfall. Die Kritiker mochten ihn nicht, das Publikum noch weniger. Heute gibt es ein paar wohlwollendere Besprechungen, aber eine Veröffentlichung auf DVD wird es wohl noch lange nicht geben. (In seinem blutigen Schocker »Dust Devil« nahm der englische Regisseur Richard Stanley mehr als zwanzig Jahre später diesen Faden auf: Ein Serienmörder wird durch die Liebe und eine erfüllte Sexualität von seinem unglückseligen Trieb erlöst.)

Dahls faszinierendes Skript hat mit der Novelle »Nest in a Falling Tree«, auf dem das Ganze basiert, nur noch oberflächlich zu tun. In Joy Cowleys Roman sind die Charaktere von Maura und ihrer bösartigen Mutter bei weitem nicht so interessant ausgearbeitet. Nun, erklärbar wird das vielleicht, wenn man weiß, dass Roald Dahl zu jener Zeit der Ehemann der fabelhaften Hauptdarstellerin Patricia Neal war, die 1965 während einer Schwangerschaft mehrere Schlaganfälle erlitten, 21 Tage im Koma gelegen und wie durch ein Wunder nicht nur überlebt, sondern auch noch einer gesunden Tochter das Leben geschenkt hatte. Für diesen, ihren zweiten Film nach der langwierigen Genesung, wollte er ihr eine Rolle auf den Leib schneidern, die das Thema Schlaganfall beinhaltet, und Neal dankte es ihm mit einer der besten Darstellungen ihrer Laufbahn. (Für jene, die Patricia Neal nicht kennen, empfehle ich »Hud« (Regie: Martin Ritt), »Breakfast at Tiffany’s« (Regie: Blake Edwards), »The Day the Earth Stood Still« (Regie: Robert Wise) und »The Subject Was Roses« (Regie: Ulu Grosbard).)
      Dahls Drehbuch ist in seiner Vielschichtigkeit einfach grandios. Die gewitzten Dialoge, die seine Kinderbücher so vergnüglich lesenswert machen, schlugen sich in seinen Drehbüchern geradezu genial nieder. Neben der Liebesgeschichte (Maura: »Billy, was ist mit Ihnen?« — Billy: »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sie sagen es dann weiter, das müssen Sie sogar.« — Maura: »Das werde ich nicht tun. Ich würde nie etwas tun, wodurch ich dich verlieren könnte.«) durchleuchtet das Drehbuch auch das englische Gesellschaftsleben und ein äußerst kompliziertes, krankes Mutter-Tochter-Verhältnis, das geprägt ist von Schuld-und-Sühne-Gedanken, Abhängigkeit, falscher Loyalität, Verachtung und unterschwelligem Hass.

Und dann Nicholas Clay als Billy! Ja, natürlich, er war einer der schönsten Männer, die jemals das Licht der Leinwand erblickten, aber was für ein guter Schauspieler! Das darf man nicht übersehen. »The Night Digger« war sein erster Film, und er gestaltete seine komplexe Rolle mit einer erstaunlichen Reife und Vielschichtigkeit. Er war einer jener Schauspieler, die in der Hauptsache mit ihrem Körper sprechen. Wie Brando und Paul Newman übrigens auch. Lange Phasen des Films bestreitet er allein, zum Beispiel die fast zehnminütige Mordsequenz in der Mitte des Films, die ohne jede Musik und ohne eine Zeile Dialog bestritten wird. Mit kleinen, subtilen Gesten und geschmeidigen, bedrohlich-erotischen Bewegungen gibt Clay seinem Billy die Präsenz und Kraft einer Naturgewalt. (Abgesehen davon, dass Billy eben nicht nur ein Mörder, sondern auch ein traumatisiertes Kind ist, das man schützen möchte, was allerdings Dahls schriftstellerischer Verdienst ist.)
     Pamela Brown als Mrs. Prince ist ebenfalls hervorragend. Tatsächlich ist »The Night Digger« bis in die kleinste Nebenrolle superb besetzt. Diese ganzen, typisch Dahl’schen Figuren mit all ihrer Schrägheit, latenter Bosheit und Heuchelei — wie hier beispielsweise der Pfarrer und seine Frau, der geschwätzige Mr. Bolton oder die ältliche Freundin von Mrs. Prince, die sich vornehmlich über Krankheiten und Geschlechtsumwandlungen unterhalten — tragen erheblich zur eigentümlich-skurillen Wirkung des Films bei, der bei aller Tragik auch eine schwarze Komödie ist.

Hervorzuheben ist neben Bernard Herrmanns alptraumhaft-schöner Musik, die stark und in bester Weise an seine Kompositionen für Hitchcocks »Vertigo« und »Marnie«, vor allem die Art Direction von Anthony Pratt, der seine letzte Oscarnominierung 2004 für »The Phantom of the Opera« (Regie: Joel Schumacher) erhielt: Das verfallene Haus, das den deutschen Titel inspiriert haben dürfte, ist mit seiner riesigen Halle, den zahllosen Antiquitäten, tiefbraunen Vertäfelungen und zerbrochenen Fenstern, deren schwere Vorhänge wie Leichentücher wirken, ein bedrohlicher Klotz, der für eine unheimliche Grundstimmung sorgt. Dank Pratts detailversessener Ausstattung wird es zur Hauptfigur des Schreckens.

»The Night Digger« ist schwer aufzutreiben. Alle sieben, acht Jahre läuft er mal im Nachtprogramm der ARD oder einem der Dritten Programme. Solltet Ihr in der Fernsehzeitung davon lesen, bleibt ruhig auf, es lohnt sich, diesen kleinen Schatz zu bergen und genau zu betrachten.

André Schneider