Filmtipp #685: Der Geschichtenerzähler

Der Geschichtenerzähler

Originaltitel: Der Geschichtenerzähler; Regie: Rainer Boldt; Drehbuch: Rainer Boldt, Dorothea Neukirchen, Wolf Christian Schröder, Hans Kwiet; Kamera: Rolf Liccini; Musik: Serge Weber; Darsteller: Udo Schenk, Anke Sevenich, Christine Kaufmann, Peter Sattmann, Jale Arikan. BRD 1989.

»Das Leben auf dem Land hat scharfe Konturen«, sagt die im Rollstuhl sitzende Clara (Kaufmann), als sie mit einem Feldstecher ihre Nachbarn auf dem Lande nördlich von Hamburg beobachtet. Regisseur Boldt siedelt seine Highsmith-Verfilmung im norddeutschen Raum an und verfährt auch sonst ziemlich frei mit dem Stoff der Thriller-Autorin. Den Kern ihrer Story jedoch lässt er unberührt. Im Zentrum der Geschichte steht ein ehrgeiziger Schriftsteller (gespielt von Udo Schenk), der sich etwas zu sehr mit seinen Romanfiguren identifiziert und oftmals keine Trennlinie mehr zwischen Wirklichkeit und Fantasie ziehen kann. Mit seiner Frau Helen (Sevenich) verbindet ihn eine Hassliebe, welche die beiden gar nicht erst verhehlen: Streitereien, Demütigungen. Um der Zerstreuung willen lässt sich Helen mit einem Freund der Nachbarin Clara ein und flüchtet mit ihm nach Sylt. Ihr Gatte indes lässt seinem Schreibfluss freien Lauf — und merkt erst spät, dass er (und das Haus) von Clara voyeuristisch untersucht werden. Die Presse bekommt Wind von Helens Verschwinden, bald gibt es Spekulationen, sie sei tot, und es dauert auch nicht lange, bis der Verdacht auf den feindseligen Ehemann fällt…

Ein merkwürdig entrückter Film, der 1989 in Montréal seine Weltpremiere feierte und ab Februar 1990 praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit in den bundesdeutschen Kinos lief. Die Presse war zwiegespalten: Einerseits goutierte man die guten Schauspielerleistungen und die dichte Atmosphäre, andererseits konnte man die »inhaltlichen Unstimmigkeiten« (»film-dienst«), welche den Krimi belasteten, nicht ignorieren. Dem Kameramann Liccini gelang eine überdurchschnittlich schöne Bildgestaltung; man sieht sich den »Geschichtenerzähler« gern an. Mit Peter Sattmann, Hans-Michael Rehberg, Gunnar Möller und Gustav-Peter Wöhler sind auch die Nebenrollen ausgezeichnet besetzt, und die Dialoge gehören zum Feinsten, was uns das (west-)deutsche Kino vor 30 Jahren schenkte. Nicht uninteressant. Allerdings ist der Streifen zu wirr und überfrachtet, sodass der Spannung keine Chance zur Entfaltung bleibt. Über weite Strecken bleibt »Der Geschichtenerzähler« blutleer; die 92 Minuten Lauflänge kommen einem bedeutend länger vor.
Für Christine Kaufmann bot dieser Film eine besonders gut entwickelte, dreidimensionale Charakterrolle. Sie resümierte später: »Nach 37 Jahren Arbeit als Schauspielerin war ›Der Geschichtenerzähler‹ der erste Film, in dem ich jede Sekunde spannend fand. […] Nicht zuletzt verdanke ich dies der Tatsache, dass der Regisseur Rainer Boldt ein Mann ist, der die weibliche Emanzipation auch für sich verwenden konnte.« Noch ein Jahr vor ihrem Tod bezeichnete sie diesen Film als ihren persönlichen Lieblingsfilm.

André Schneider

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