Filmtipp #866: Knife of Ice

Knife of Ice

Originaltitel: Il coltello di ghiaccio; Regie: Umberto Lenzi; Drehbuch: Umberto Lenzi, Antonio Troiso; Kamera: José F. Aguayo Jr.; Musik: Marcello Giombini; Darsteller: Carroll Baker, Alan Scott, Ida Galli [Evelyn Stewart], George Rigaud, Eduardo Fajardo. Spanien/Italien 1972.

Il Coltello di Ghiaccio

»Il coltello di ghiaccio« beginnt mit einer Rückblende, in welcher die Cousinen Martha und Jenny einem Stierkampf beiwohnen. Der Titelvorspann endet mit einem Zitat: »Fear is a knife of ice which penetrates the senses down to the depth of conscience.« Umberto Lenzi schreibt diesen Satz Edgar Allan Poe zu, in Wahrheit aber stammt er von ihm selbst. Der Stierkampf ist für die Geschichte des Films nicht weiter relevant, Lenzi wollte lediglich zeigen, wie unterschiedlich Martha (Baker) und Jenny (Galli) auf den Anblick von Blut reagieren.
Martha ist nach einem Schock verstummt. Sie hatte mitansehen müssen, wie ihre Eltern bei einem Zugunglück grausam ums Leben kamen. Die damals 13-jährige wuchs danach behütet bei ihrem Onkel Ralph (Rigaud) auf, und ihre Cousine Jenny wurde ihre beste Freundin. Das scheußliche Unglück liegt 15 Jahre zurück, als Martha ihrem Onkel auf dessen Landsitz mal wieder einen Besuch abstattet. Die mittlerweile als Sängerin weltberühmte Jenny kommt ebenfalls zu Besuch, wird allerdings kurz nach ihrer Ankunft in der Garage ermordet — mit einem Messer. Der herbeigerufene Inspektor (Franco Fantasia) glaubt, dass ein Serienkiller sein Unwesen treibt, da kurz zuvor bereits eine weitere Frauenleiche gefunden worden war. Beide Frauen waren jung und blond, ähnelten vom Typ her also der armen Martha, die fortan mit der Angst lebt, das nächste Opfer sein zu können…
Das nächste Opfer, die dunkelhaarige Annie (Silvia Monelli), war die Haushälterin von Onkel Ralph. Die Polizei lag also falsch. Ein zunächst verdächtiger Satanist (Mario Pardo) stellt sich als harmloser, drogensüchtiger Hippie heraus. Der Kreis der Verdächtigen ist dennoch nicht gerade klein: Onkel Ralphs Arzt Dr. Laurent (Scott) hat kein wirkliches Alibi für die Tatzeiten, der Chauffeur des Hauses (Fajardo) ist äußerst zwielichtig und unheimlich und Pater Martin (José Marco) scheint einen Hang zu minderjährigen Mädchen zu haben…

Umberto Lenzi und Carroll Baker hatten ab 1969 bereits drei Filme zusammen gedreht, die sich heute einer großen Anhängerschaft erfreuen. Nachdem beide 1970 anderweitig beschäftigt waren, kamen sie 1972 für die italienisch-spanische Co-Produktion »Il coltello di ghiaccio« ein viertes und letztes Mal zusammen. Zuvor hatte Lenzi gemeinsam mit dem Drehbuchautor Gianfranco Clerici einen Thriller drehen wollen, der auf den Manson-Morden fußte, entschied sich dann aber für einen mediokren Kriegsfilm mit Jack Palance, während Carroll Baker in rascher Folge La última Señora Anderson, »Captain Apache« (Regie: Alexander Singer) und »Il diavolo a sette facce« (Regie: Osvaldo Civirani, mit Stephen Boyd und George Hilton) drehte. »Il coltello di ghiaccio« sollte zunächst ein Remake von The Spiral Staircase werden, doch Lenzi merkte schon bei der Stoffentwicklung, dass sein Werk sich nicht mit Siodmak würde messen können, also machte er eine Kehrtwende. Im Vergleich zu den drei Vorgänger-Filmen bekam Baker in »Il coltello di ghiaccio« eine weniger dekorative, eher schwache Rolle, die sich erst im Handlungsverlauf langsam entwickelt. Die Innenaufnahmen entstanden in den Studios in Rom, die Außenaufnahmen in Katalonien und in der Nähe von Madrid, wie es der Produktionsvertrag zwischen Italien und Spanien vorschrieb. Auch in Sachen Nacktheit und Gewalt musste sich Lenzi unter Rücksichtnahme auf die spanische Produktionsseite deutlich zurücknehmen, und das Budget, das sieht man leider rasch, war bescheidener als das seiner vorigen Filme.
Zu den größten Schwächen des Films gehören einige bei schönstem Sonnenschein gedrehte Nebelszenen, die nicht überzeugen und in der Gesamtheit des Werkes wie ein Störfaktor wirken. (Es war die erst zweite Kinoarbeit des noch jungen Kameramannes.) Dazu kommen die ungelenken, viel zu dick aufgetragenen Versuche Lenzis, die Verdächtigen verdächtig erscheinen zu lassen; ein Manko, das Lenzi später selbst einräumte. Schließlich wäre noch der männliche Hauptdarsteller zu nennen: Alan Scott, ein US-Amerikaner mit dem Charisma eines abgelaufenen Joghurts, dem aus gutem Grund die große Karriere als Schauspieler versagt geblieben war. Scott gibt eine wirklich lahme Performance, die das Gleichgewicht des Films ins Wanken gebracht hätte, wenn die übrigen Schauspieler nicht so souverän agiert hätten.

»Il coltello di ghiaccio« hatte es anno 1972 bei der starken Konkurrenz etwas schwer auf dem giallo-Markt. Die Einspielergebnisse blieben weit hinter denen der anderen Lenzi-Baker-Filme zurück. Lenzi meinte später, der Film sei in den USA sehr erfolgreich gewesen, doch das stimmte leider nicht: Dies war der einzige seiner Filme mit Carroll Baker, der in den Vereinigten Staaten keine Kinoauswertung fand. Dennoch ist dies der Film der beiden, der mir am besten gefiel, was ich allerdings nicht fundiert begründen kann.

André Schneider

Filmtipp #865: Hör auf zu lügen

Hör auf zu lügen

Originaltitel: Arrête avec tes mensonges; Regie: Olivier Peyon; Drehbuch: Olivier Peyon, Vincent Poymiro, Arthur Cahn, Cécilia Rouaud; Kamera: Martin Rit; Musik: Bravinsan, Thylacine; Darsteller: Guillaume de Tonquédec, Victor Belmondo, Guilaine Londez, Jérémy Gillet, Julien De Saint Jean. Frankreich 2022.

Arrête avec tes mensonges

Der Autor Philippe Besson ist in Frankreich hoch angesehen. Fast jedes seiner Bücher wurde ein Bestseller; seit 2001 heimst er regelmäßig die renommiertesten Auszeichnungen der Branche ein. (Eines seiner Bücher, Son frère, wurde von Chéreau verfilmt.) Eine Reise in die alte Heimat Barbezieux-Saint-Hilaire inspirierte ihn zu dem 2017 erschienenen autobiographischen Roman »Arrête avec tes mensonges«, der unter anderem mit dem Prix Maison de la Presse ausgezeichnet und von der Schauspielerin und Übersetzerin Molly Ringwand ins Englische übersetzt wurde. Im Oktober 2020 wurde das Buch in Lyon für die Bühne adaptiert, im November 2021 begannen in Cognac und Angoulême die Dreharbeiten zu diesem rauschhaft-schön bebilderten Film, der die Qualitäten des Romans noch übertrifft, denn wo Besson sich in langen Dialogen und detaillierten Beschreibungen verliert, setzt Regisseur Olivier Peyon auf die Kraft reduzierter, klarer Bilder.

Philippe Besson heißt im Roman und im Film Stéphane Belcourt. Der aus Paris stammende Bühnenschauspieler Guillaume de Tonquédec spielt ihn mit Intensität und Understatement. Zur Geschichte: Zum 200. Jubiläum einer prestigeträchtigen Cognac-Marke wird der Star-Autor Belcourt in seine alte Heimat eingeladen, um dort als Ehrengast eine Rede zu halten. Er hat dem Städtchen, in dem er aufgewachsen ist, vor 35 Jahren den Rücken gekehrt und seinen Jugendtraum von der Schriftstellerei wahr werden lassen. Von der Reise nach Cognac erhofft sich der in einer Lebenskrise befindliche Autor neue Impulse und Ablenkung. (Er leidet unter einer jüngst in die Brüche gegangenen Beziehung und hat seit zwei Jahren nicht mehr geschrieben.) Vor Ort im Hotel trifft er auf einen jungen Mann, Lucas Andrieu (Belmondo), der dort im Auftrag des Cognac-Unternehmens die ausländischen Gäste betreut. Der Nachname macht Stéphane klar, dass es sich um den Sohn von Thomas Andrieu handeln muss, dem Mann, der seine erste große Liebe gewesen war, als er 17 war. Thomas, in Rückblenden gespielt von Julien De Saint Jean, war ein richtiger Mädchenschwarm mit Motorrad und wurde von dem jungen Stéphane (Gillet) aus der Ferne bewundert — bis Thomas ihm eines Tages ein Briefchen zusteckte und die beiden begannen, sich heimlich zu treffen. Lucas begreift schnell, dass Stéphane und sein Vater mehr waren als nur Schulkameraden, und Stéphane erfährt, dass Thomas sich vor zwei Jahren das Leben genommen hat. Für beide, Lucas und Stéphane, werden die gemeinsamen Tage zu einer schmerzhaften und auch heilsamen Reise in die Vergangenheit…

Der echte Thomas Andrieu war ein Bauernsohn aus einem Dorf in der Nähe von Cognac und litt zeitlebens unter der Scham, Männer zu lieben. Philippe Besson widmete seinen Roman seiner 2016 verstorbenen Jugendliebe. Peyons leiser Film ist eine Meditation über Liebe und Vergänglichkeit, über Schuld und Sehnsucht und erzählt eine an sich einfache, alltägliche Geschichte mit frappierendem Einführungsvermögen und einem ebenso simplen wie klaren Spannungsbogen. »Arrête avec tes mensonges« ist einer dieser Filme, bei denen einfach alles stimmig ist; Bild und Ton verschmelzen zu einer heutzutage selten erlebbaren Harmonie. Die Schauspieler bringen erstklassige Leistungen, die Musik trägt uns über die Berg- und Talfahrt der Emotionen. Bei aller Melancholie, die bei dem Sujet nicht vermieden werden kann, trumpft der Film zudem noch mit einem wohltuend-leichten Humor und einer verhaltenen, natürlichen Erotik. Ein Film, den man wirklich gesehen haben sollte. Und das bitte nicht nur einmal.

André Schneider

Filmtipp #864: Haus der tödlichen Sünden

Haus der tödlichen Sünden

Originaltitel: Alla ricerca del piacere; Regie: Silvio Amadio; Drehbuch: Silvio Amadio; Kamera: Aldo Giordani; Musik: Teo Usuelli; Darsteller: Barbara Bouchet, Farley Granger, Rosalba Neri, Nino Segurini, Dino Mele. Italien 1972.

alla ricerca del piacere

1972 war das Jahr, in dem Barbara Bouchets Karriere in Italien so richtig durchstartete. Allein in diesem einen Jahr war sie in 14 (!) Kino- und Fernsehproduktionen zu sehen, meist in Hauptrollen. Sie arbeitete mit B-Meistern wie Lucio Fulci und Duccio Tessari und war in kürzester Zeit eine feste Größe des italienischen Kinos, auch wenn sie in den folgenden Jahren ein bisschen weniger drehte — im Schnitt waren es ab 1973 drei Filme pro Jahr, bis ihre Karriere ab 1982 vorübergehend ins Straucheln geriet. 2001 stand sie für Martin Scorsese vor der Kamera und war seither nie wieder ohne Arbeit.
Der größtenteils in Venedig entstandene »Alla ricerca del piacere«, besser bekannt unter seinem US-Titel »Amuck!«, ist ein echt dreckiger giallo, dessen gute Besetzung so manches Manko ausbügeln muss. Regisseur Amadio war für seine schludrig inszenierten Softsexfilmchen bekannt und verließ das vertraute Terrain auch bei diesem Machwerk nicht: Eine rudimentäre Rahmenhandlung wird mit einfallslosen Nackedei- und Sexszenen aufgepeppt, unterlegt allerdings mit einem ziemlich guten, eingängigen Score von Teo Usuelli.

Farley Granger, Veteran aus immerhin zwei Hitchcock-Klassikern, gibt einen Bestseller-Autor auf der Suche nach einer neuen Sekretärin. Er findet sie in Barbara Bouchet, die für ihren neuen Arbeitgeber nach Venedig kommt. Granger hat eine attraktive Gattin, die von Rosalba Neri gespielt wird, die es fertigbrachte, nicht einen einzigen guten Film zu machen. (Sie selbst sprach in einem späteren Interview liebenswert humorvoll über ihre ulkige Filmlaufbahn.) Der Zuschauer erfährt bald, dass Bouchet gar keine richtige Sekretärin ist; die Stellung dient ihr lediglich als Tarnung für Nachforschungen in der Lagunenstadt: Ihre Freundin Sally (Patrizia Viotti) hatte vor ihr als Privatsekretärin bei dem wohlhabenden Autor gearbeitet, war dann aber spurlos verschwunden. Der geneigte Zuschauer ahnt bereits, dass sich Bouchets Verdacht, dass Sally etwas Schlimmes zugestoßen sein muss, sich bald erhärtet. Ein nicht besonders hilfreicher Polizeibeamter (Nino Segurini) ist nicht davon überzeugt, dass es wirklich ein Verbrechen gegeben hat. Also ermittelt die resolute junge Frau weiterhin auf eigene Faust weiter, lässt sich aber nebenher auf die sexuellen Avancen von Granger und Neri ein, die in ihrer feudalen Villa regelmäßig Orgien veranstalten und auch sonst nicht zimperlich sind. Gerade als La Bouchet anfängt, sich auf das fröhliche Treiben einzulassen und sich vorgenommen hat, Verdacht Verdacht sein zu lassen, wird eine entstellte Frauenleiche gefunden…

»Alla ricerca del piacere« ist ein Film, der es einem nicht unbedingt leicht macht, ihn zu mögen. Qualitativ fällt er im Vergleich zu den Genre-Klassikern stark ab; es ist ein bodenständiger Vertreter aus dem C-Bereich. Ein sexploitation film, der an seiner unsorgfältigen Inszenierung krankt. Allerdings muss man sagen, dass die Aufmachung und Ausstattung der Neuveröffentlichung aus dem Jahre 2017 ungeheuren Spaß macht — nicht zuletzt, weil sie auch eine Soundtrack-CD enthält. Das Venedig des Jahres 1971 versprüht einen morbiden Charme. Das Anwesen, das der reiche Schriftsteller und seine Frau bewohnen, ist umgeben von Wasser und nur mit dem Boot zu erreichen. Das bietet für die an Nancy Drew erinnernde Krimihandlung einen adäquaten und klug ausgewählten Hintergrund: »[Kameramann Aldo] Giordani legte […] besonders viel Wert auf Bildpoesie, das wird gleich am Anfang klar ersichtlich dargestellt. Greta wird per Motorboot quer durch Venedig zu ihrer neuen Arbeitsstelle chauffiert, […] und je mehr sie sich der Metropole bei hohem Wellengang entfernt, umso isolierter wird das Geschehen.« (Tobias Reitmann)
Ursprünglich war Edwige Fenech für Bouchets Rolle unter Vertrag genommen worden, musste das Projekt jedoch absagen, da sie ein Kind von Fabio Testi erwartete. (Ihr Sohn Edwin kam 1971 zur Welt.) Was wäre »Alla ricerca del piacere« ohne Barbara Bouchet nur für ein Film geworden? Eine beunruhigende Frage.

André Schneider