Schatten der Angst
Originaltitel: Fragment of Fear; Regie: Richard C. Sarafian; Drehbuch: Paul Dehn; Kamera: Oswald Morris; Musik: Johnny Harris; Darsteller: David Hemmings, Gayle Hunnicutt, Wilfrid Hyde-White [Wilfrid Hyde White], Flora Robson, Adolfo Celi. GB 1970.
»So I’m safe for the moment. They think I’ve given up. But I haven’t given up. As soon as I can think straight, I’ll draw them out. They’re somewhere.« (Tim Brett)
Mitte Juni 1969. Das Team von »Fragment of Fear« befand sich bereits seit über einer Woche zu Außenaufnahmen in Italien, als der Regieassistent William P. Cartlidge um vier Uhr in der Frühe von einem Anruf des Hauptdarstellers aus dem Schlaf gerissen wurde: »Have you read the bloody script?«, fragte David Hemmings. Der verwunderte Cartlidge antwortete, dass er selbstverständlich das Drehbuch gelesen habe. Im folgenden Gespräch gab Hemmings zu, dass er dies erst jetzt, mitten während der Dreharbeiten, getan habe, und es scheußlich fand: »Isn’t there anything we can do?« — Diese ulkige Anekdote lässt tief blicken. »Fragment of Fear« ist ein sonderbarer Film, angesiedelt irgendwo zwischen John le Carré und Antonionis Blow-Up, und definitiv ein Kind seiner paranoiden Zeit, in der es literarisch und filmisch viel um Sinnestäuschungen, Drogen und Verschwörungen ging. Hemmings Agent hatte das Projekt nach einer kurzen Lektüre durchgewunken, weil eine Rolle für dessen frisch angetraute Gattin Gayle Hunnicutt drin war, die für ihren Mann nach England emigriert war und hoffte, sich dort als seriöse Schauspielerin etablieren zu können. (Im Kino sollte ihr das leider nicht gelingen, wohl aber in anspruchsvollen Fernseharbeiten für die BBC und auf der Bühne.)
Für David Hemmings wurde »Fragment of Fear« zu einer fulminanten one-man show, die er allen Widrigkeiten zum Trotz bestens nutzt, um sich schauspielerisch zu profilieren. Er gibt einen Ex-Drogensüchtigen namens Tim Brett, der über seine Suchterfahrungen einen Bestseller geschrieben hat und sich nun mit seiner Tante Lucy (Kurzauftritt: Flora Robson) in Italien ein paar schöne Tage macht. Leider wird das Tantchen in Pompeji von einem Fremden stranguliert. Entdeckt wird sie von Juliet (Hunnicutt), einer hübschen Touristin, mit der Tim sogleich eine Beziehung eingeht, und nicht nur das: Nach der Rückkehr ins heimische London wird die Hochzeit vorbereitet. Vorher jedoch mischt Tim sich in die Ermittlungen der italienischen Polizei ein und hat merkwürdige Gespräche mit einem Hotelier (Kurzauftritt: Adolfo Celi). Alles tappt im Dunkeln, der Mörder wird nicht gefasst, und so lässt das Verbrechen dem armen Tim keine Ruhe. In Sussex besucht er Mrs. Gray (Kurzauftritt: Mona Washbourne), eine Freundin seiner Tante, die sie bei deren Kampf für die Resozialisierung Krimineller unterstützte. Auf seinem Rückfahrt lernt er im Zug eine alte, an Sister George gemahnende Lesbierin (Kurzauftritt: Mary Wimbush) kennen, die ihm zum Abschied ein Couvert überreicht, welches er bitte erst zu Hause öffnen und lesen soll. In seinen eigenen vier Wänden angekommen, muss Tim nicht nur eine gruselige Drohung lesen, sondern auch feststellen, dass sie auf seiner eigenen Schreibmaschine getippt wurde. Es war also jemand in seiner Wohnung. Auf seinem Tonbandgerät findet er eine weitere kryptische Nachricht, eingeleitet mit einem diabolischen Lachen: Seine Verlobte solle bei der Trauung ihre Brille tragen. Vor seinem Fenster gurrt ewig dieselbe Taube, immer wieder klingelt das Telefon. Tim recherchiert weiter, sucht einen gewissen Mr. Copsey (Kurzauftritt: Wilfrid Hyde-White) auf, wird von einem Polizisten (Derek Newark) aufgesucht, der keiner ist, und macht die Bekanntschaft mit Major Ricketts (Kurzauftritt: Daniel Massey), doch all diese Begegnungen lösen das Rätsel, das mehr und mehr Schichten bekommt, mitnichten…
»I am seven, like seven devils in the bible… or 17, or 70, or 700. But you are only one…«, sagt die unheimliche Stimme am Telefon. Wer sind die Stepping Stones? Tim beschleicht der Verdacht, dass seine liebe Tante der Kopf eines weitverzweigten Erpresserrings war. Doch was, wenn dieser Gedanke nichts weiter als ein paranoides Konstrukt seines durch den jahrelangen Drogenkonsum irreversibel geschädigten Gehirns ist? Und wem kann er a) sich anvertrauen und b) überhaupt noch vertrauen?
»A criminal kills a charitable old lady who spent her life helping criminals — it’s ironical, isn’t it?«, sagt Tim/Hemmings an einer Stelle. »If she had been robbed I could understand it, but there is just no reason!« Wir, als gut konditionierte Zuschauer, sind stets wieder auf der Suche nach dem Grund, dem Motiv, dem Sinn. Regie und Drehbuch spielen hier (vielleicht unbewusst?) mit unseren Sehgewohnheiten. Wie sich die zwei Geschichten, die hier erzählt werden, entwickeln, ist im Wesentlichen das, was diesen Film einzigartig macht. Es gibt einen gelungenen Aufbau, der zu einem Moment führt, in dem die Fährte effektiv geändert wird, um eine völlig andere Sichtweise zu offenbaren, die Tims Interpretationen des Chaos in seinem Leben, das nach dem Mord auftritt, beeinflusst. Zugegeben, wenn man einige der bereits erwähnten Indizien identifiziert, ist die Veränderung kaum überraschend, doch das Ganze stützt sich auch auf eine schwere Atmosphäre, die für ein ganz besonderes Seherlebnis sorgt.
»Fragment of Fear« liegt ein vergessener Roman aus den 1960ern zugrunde, der von keinem Geringeren als Paul Dehn adaptiert wurde, jenem legendären (schwulen) Drehbuchautoren von Goldfinger, »The Spy Who Came in from the Cold« (Regie: Martin Ritt), »The Deadly Affair« (Regie: Sidney Lumet), »The Night of the Generals« (Regie: Anatole Litvak) und »Beneath the Planet of the Apes« (Regie: Ted Post). Dies war nicht Dehns beste Arbeit, vereinte aber dennoch etliche seiner liebsten Motive: das regnerische London, die ominöse Schreibmaschine, mysteriöse Fremde und ein die Unschuld symbolisierendes Tier (hier ist es die Taube namens Columbus) in einer Schlüsselfunktion. Passend zu seinem Titel bietet dieser Streifen, der nicht ohne Reiz ist, einen Vorgeschmack auf den starken Psychothriller, der er nie ganz wird — sozusagen Fragmente von Größe. (Tatsächlich schreit der Film nach einem Remake, denn eine lebendigere Interpretation desselben Stoffes könnte ein echter Kracher sein.) Hätte »Fragment of Fear« die seiner starken Prämisse innewohnende Spannung maximiert, hätte er die Zuschauer direkt in den Bauch treffen können — und in der Tat lösen einige Szenen, insbesondere das Finale, das gewünschte Level an Unbehagen beim Publikum aus. Geschichten, die von veränderten mentalen Zuständen handeln, sind bekanntermaßen kompliziert zu erzählen, denn der Versuch, die Wendungen des sich anbahnenden Wahnsinns nachzuvollziehen, schadet oft der erzählerischen Klarheit — und hier wird das Problem durch die Geschwätzigkeit noch verschärft. Da es nur wenige aufregende Bilder gibt — auch Kameramann Oswald Morris hatte schon weitaus bessere Arbeiten abgeliefert —, kommt es immer dann zu langweiligen Abschnitten, wenn die Handlung undurchsichtig wird. Der US-amerikanische Regisseur Richard C. Sarafian, der laut Aussagen des Teams meist schon um elf Uhr vormittags zur Flasche griff, gab sich nicht die geringste Mühe, das faszinierende Sujet des Films filmisch ansprechend aufzubereiten. Erst gegen Ende lässt er mit rasanten Schnitten und weitwinkligen Zerrbildern eine visuelle Entsprechung zu David Hemmings Geisteszustand aufblitzen.
»Fragment of Fear« ist ein ungewöhnlicher, schwer zugänglicher, in seiner Gänze jedoch äußerst aufreizender Thriller, den ich als eine kleine Entdeckung gefeiert habe. Der jazzig-aufpeitschende Score von Johnny Harris macht zuweilen atemlos und zerrt wohlig an den Nerven. In Nebenrollen erblicken wir einige wohlbekannte englische Charaktergesichter, so zum Beispiel Patricia Hayes, Roland Culver, Philip Stone, Bernard Archard, Georgina Moon und Maxwell Craig. Ein selten gezeigter, erst vor wenigen Jahren in limitierter Auflage auf BluRay veröffentlichter Thriller. Hunnicutt und Hemmings drehten bis zur ihrer Scheidung 1975 noch drei weitere gemeinsame Filme, unter anderem Hemmings Regie-Erstling »Running Scared« (1972), von denen allerdings keiner so interessant und sehenswert war wie dieser hier.
André Schneider