Filmtipp #411: Tunnel 28

Tunnel 28

Originaltitel: Escape from East Berlin; Regie: Robert Siodmak; Drehbuch: Gabriele Upton, Millard Lampell, Peter Berneis; Kamera: Georg Krause; Musik: Hans Martin Majewski; Darsteller: Don Murray, Christine Kaufmann, Werner Klemperer, Carl Schell, Ingrid van Bergen. USA/BRD 1962.

escape from east berlin

»Ich drehte einen weiteren schlechten Film, bei dem ich mir nicht einmal minimale Mühe gab. Er hieß ›Tunnel 28‹, und die mangelnde Qualität hatte sicher auch mit meiner Darstellung zu tun.« (Christine Kaufmann, »Christine Kaufmann und ich — Mein Doppelleben«)

Ganz ehrlich: So schlecht ist dieser Film weiß Gott nicht! Zum 3. Oktober bietet er sogar ziemlich solide Unterhaltung. — Der Mauerbau im August 1961 hatte nicht nur traurige, sondern auch sensationelle Seiten, die natürlich ganz den Geschmack der US-Amerikaner trafen und dementsprechend genüsslich von der Journaille und von Hollywood aufbereitet wurden. Begeistert sprang die freiheitsliebende Nation auf spektakuläre Fluchtversuche an, die kurz nach der Errichtung des Todesstreifens für Aufsehen sorgten. Zu den bemerkenswertesten (geglückten) Beispielen zählte Ende Januar 1962 der Bau eines Tunnels, durch den fast 30 Ost-Berliner in den Westteil der Stadt gelangten. Der Hollywood-Produzent Walter Wood ließ die Drehbuchautoren Gabriele Upton, Millard Lampell und Peter Berneis aus einer Reihe von Zeitungsartikeln, die über diese spektakuläre Flucht berichtet hatten, in Windeseile ein Drehbuch schustern und begann alsbald mit dessen filmischer Umsetzung. Die von MGM in Auftrag gegebene B-Produktion entstand zwischen Mai und Juli 1962 in West-Berlin mit fast ausschließlich deutscher Belegschaft unter der Regie von Altmeister Robert Siodmak (The Spiral Staircase), der allerdings keine Berliner Geschichten mehr erzählen wollte und sich nicht wirklich auf das Ereignis und die Menschen, die es traf, einließ — eine Auftragsarbeit, die er routiniert und flott hinter sich brachte. Dass der Film im wahrsten Wortsinne ein Schnellschuss ohne großen Aufwand war, sieht man. Dennoch ist »Escape from East Berlin« ein durchaus spannendes und wirklichkeitsnah, beinahe dokumentarisch in Szene gesetztes Fluchtdrama, das den Amerikanern wirkungsvoll demonstrierte, was die Mauer überhaupt bedeutete.

Um dem US-Publikum günstige Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen, wurde der all-american sunnyboy Don Murray, der einst Seite an Seite mit Marilyn Monroe in »Bus Stop« (Regie: Joshua Logan) gespielt hatte, engagiert. Er spielt den Ost-Berliner Studenten Kurt Schröder (mit glaubhaftem deutschen Akzent), der gleich zu Beginn des Films Zeuge wird, wie einer seiner besten Freunde (Horst Janson) bei dem Versuch, mit einem Wagen durch die Berliner Mauer zu fahren, getötet wird. Die Schwester des Toten, Erika (Christine Kaufmann in ihrer dritten US-Produktion), und Kurts Familie (u. a. Ingrid van Bergen) drängen ihn, den getreuen Sozialisten, ihnen die Flucht in den Westen zu ermöglichen. Mit der Unterstützung einiger Freunde wird ein Tunnel unter der Mauer gegraben. Gefährlich wird es, als missgünstige Nachbarn die Gruppe an die Polizei verraten…

Die Spannungskurve steigt in den letzten 20 Minuten des kleinen Streifens gehörig an. Man vermisst etwas die obligatorische Romanze; lediglich zu Beginn des Films gibt es einen zarten Kuss zwischen Murray und Kaufmann, der allerdings nur dazu dient, zwei schnüffelnde Polizisten zu täuschen. Der Film lief im Oktober 1962 in der BRD an und fand wenig Anklang bei der hiesigen Kritik: »Der Film ist für Analphabeten gemacht, die nicht wissen, was die Mauer ist«, ereiferte sich »Die Zeit«. Als der Film am 1. Dezember desselben Jahres in New York seine US-Premiere feierte, stieß er auf mehr Gegenliebe. Bemerkenswert sind die deutschen Schauspieler — von Anita Kupsch bis Kai Fischer, von Bruno Fritz bis Arne Elsholtz —, die in fremder Sprache wirklich gute Leistungen erbrachten.

André Schneider