Filmtipp #567: Sein Bruder

Sein Bruder

Originaltitel: Son frère; Regie: Patrice Chéreau; Drehbuch: Patrice Chéreau, Anne-Louise Trividic; Kamera: Eric Gautier; Darsteller: Bruno Todeschini, Éric Caravaca, Nathalie Boutefeu, Maurice Garrel, Catherine Ferran. Frankreich 2003.

Ein winterlicher Film, der, wie ich finde, hervorragend in die Weihnachtswoche passt. Es geht um Menschlichkeit, Würde, Bruderliebe, Verzweiflung und Einsamkeit. Für »Son frère«, seinen 13. Film, wurde Patrice Chéreau bei der Berlinale 2003 mit dem Silbernen Bären als Bester Regisseur ausgezeichnet. Im Mai desselben Jahres lief der Streifen in Cannes und feierte zeitgleich seine TV-Premiere auf Arte (der Sender hatte den Film produziert).

Die Handlung wird nicht chronologisch erzählt, Chéreau springt zwischen Februar und August hin und her, zwischenzeitlich streift er den Juli und den März. Es geht um die Brüder Thomas (Todeschini) und Luc (Caravaca), die sich einander irgendwie abhanden gekommen sind. Der Kontakt brach ab, sie wurden sich fremd. An einem Abend im Februar steht Thomas plötzlich vor Lucs Tür. Er leidet an einer schweren Blutkrankheit und bittet seinen kleinen Bruder, ihn zu den Untersuchungen zu begleiten. Luc tut ihm den Gefallen, obschon er immer noch tief verletzt ist: Thomas hatte ihn seinerzeit im Stich gelassen, als er ihn am dringendsten gebraucht hatte. — In den folgenden Monaten, in denen Luc Thomas auf dessen letzten Weg begleitet, überwinden die beiden ihre Entfremdung und entdecken ihre Zuneigung füreinander. Thomas’ Martyrium bekommt bei aller Beschwerlichkeit etwas beinahe Meditatives. Zu guter Letzt fahren die ungleichen Brüder in die Bretagne. Ein alter Mann (Garrel) erzählt von den Strömungen des Meeres, und Thomas teilt Luc mit, wo und wie er begraben werden möchte…

Chéreau bedient sich einmal mehr einer formalen Radikalität, um die Intensität der Tragödie auf die Spitze zu treiben. Die Kamera bleibt meist auf Augenhöhe mit den Protagonisten, beinahe dokumentarisch. Es gibt keine Filmmusik, lediglich den Song »Sleep« von Marianne Faithfull und Angelo Badalamenti bekommen wir zu hören. Die schroffe Küste der Bretagne, das wilde Rauschen des Meeres, das Unprätentiöse und Unmittelbare — das ist Chéreaus Universum. Befreit von allem Überflüssigen erzählt er eine Geschichte über das Leben und den Tod, voll zarter, rauer Zwischentöne und geradezu peinigender Intimität. Das einfühlsame Spiel der beiden Hauptdarsteller bleibt lange im Gedächtnis. Der »film-dienst« sah in dem leisen, sachlichen Film eine »komplexe […] Studie über die körperliche Existenz des Menschen und ihre Hinfälligkeit.« — Ein kleines Meisterwerk, das Chéreaus Vorgänger Intimacy in jeder Hinsicht ebenbürtig ist.

André Schneider

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