Filmtipp #859: Das Grauen kam aus dem Nebel

Das Grauen kam aus dem Nebel

Originaltitel: La morte risale a ieri sera; Regie: Duccio Tessari; Drehbuch: Biagio Proietti, Duccio Tessari; Kamera: Lamberto Caimi; Musik: Gianni Ferrio; Darsteller: Raf Vallone, Frank Wolff, Gabriele Tinti, Gillian Bray, Eva Renzi. Italien/BRD 1970.

La morte risale a ieri sera

Duccio Tessari gelang mit diesem Streifen, Anfang 1970 in Mailand gedreht, ein gelungener Hybrid aus giallo und poliziottesco. Raf Vallone spielt den verwitweten Amanzio Berzaghi, der sich nach dem Tod seiner Frau alleine um die oligophrene Tochter Donatella (Bray) kümmert, was nicht immer einfach ist, da die junge Frau — Donatella ist bereits 25 — aufgrund ihrer Behinderung viel Zuwendung braucht. Eines Tages ist Donatella spurlos verschwunden. Niemand will etwas gesehen oder gehört haben. In seiner Verzweiflung wendet sich Berzaghi an die Polizei. Kommissar Lamberti (Wolff) und sein Assistent Mascaranti (Tinti) nehmen sich der Sache an. Der Fall wird, je tiefer die beiden graben, immer rätselhafter und abgründiger. Die Ermittler stoßen auf massive Widerstände. Schließlich knöpfen sich die beiden Polizisten einen Zuhälter vor, der den gruseligen Verdacht, dass Donatellas Verschwinden mit einem Mädchenhändlerring zusammenhängt, erhärtet…

Der an Idiotie kaum zu übertreffende deutsche Titel wirkt abschreckend und weckt Erwartungen, die »La morte risale a ieri sera« letztlich nur enttäuschen kann. Es ist ein subtiler und schwer zu kategorisierender Streifen, dem man sich mit gebotener Aufmerksamkeit nähern sollte. Thomas Hübner schrieb in seiner Kritik: »Der Aufbau geschieht […] über das große Thema Arbeit, die sich hier wie ein roter Faden durch das Geschehen zieht und bei der mehrere Seiten durchleuchtet werden. Berzaghi war zum Zeitpunkt der Entführung seiner Tochter am arbeiten, die Verbrecher nennen ihre Tätigkeiten sicherlich auch Arbeit, und genau eine solche soll die zurückgebliebene Donatella nun auch bei ihrer solventen und perversen Kundschaft übernehmen. Kommissar Lambertis Betätigung scheint sein Leben zu sein, obwohl er die hässlichen Seiten und die abscheulichen Beteiligten dieses […] Zustandes kaum noch ertragen kann. Seine Frau bildet in dieser Kategorie einen herben Kontrast, da sie sich entfalten, jeden Moment und jeden Fingergriff rechtfertigen kann und die volle Überzeugung vertritt, dass sie etwas bewirkt. Die Rückschläge und Enttäuschungen kommen bei anderen vor. Das Umfeld Berzaghis ist durch die arbeitende Klasse geprägt, hier werden für die Lösung des Falles möglicherweise noch wichtige Mosaiksteinchen zu finden sein. Sieht man die Privatpersonen an, so wird das tägliche Geschäft mit in den Feierabend getragen. Frank Wolff und Eva Renzi diskutieren lange darüber, anscheinend permanent, da sich diese Auseinandersetzung sogar bis in die nähere Zweisamkeit mit hineinzieht, aber sie reden aneinander vorbei. Er nimmt ihr Wirken nicht besonders ernst, sie verabscheut seinen Umgang mit Mördern, Zuhältern und Nutten, den er zwangsläufig haben muss. Berzaghis Arbeit scheint ebenfalls nie aufzuhören. Nach Feierabend geht sie weiter, da er sich um seine Tochter kümmern muss und der sich anbahnende, eigentlich bereits trostlose Gesamteindruck wird schließlich durch eine abscheuliche Tat und ein grausames Verbrechen verschärft. Interessant gestaltet wurden auch die männlich-weiblichen Rollenverteilungen. In diesem Szenario sind es hauptsächlich die Männer, die emotionalere, impulsivere, tragischere und vielleicht greifbarere Züge bekommen, als es bei den Damen den Anschein hat. Sie wirken wesentlich mehr angreifbar, werden aus diesem Grund im Gegenzug aber auch massiver angreifen. Lediglich […] Renzi bedient beide Seiten ganz großartig und es sieht so aus, als habe sie eine Rolle gefunden, die vollkommen ihren Ansprüchen genügt, und ihrer persönlichen Auffassung einer Frauenrolle entspricht. Im Zusammenspiel mit Frank Wolff entstehen sehr subtile Momente, die den Zuschauer […] tief blicken lassen können. Er prägt das Szenario ganz bemerkenswert, da es zu öffentlichen und privaten Intervallen kommt. Im Beruf fühlt er sich dem Empfinden nach sicherer, er weiß genau, was zu tun ist, wie sein Klientel anzupacken ist, wo die potentiellen Enttäuschungen liegen könnten. Aus dieser Unberechenbarkeit entsteht für ihn sozusagen die Berechenbarkeit, die er im Privatleben nicht auf dem Silbertablett serviert bekommt. Zu diesem Zweck bekommt man eines der schönsten Gesichter von Eva Renzi offenbart, die rückblickend […] als die größte verpasste Chance des italienischen Kinos zu benennen ist. Tolle Momente entstehen überdies in der Zusammenarbeit von Kommissar Lamberti und seinem ungehobelt wirkenden, aber gerade heraus agierenden Assistenten Mascaranti. Ein eingespieltes Team, eine Einheit in guten, wie in schlechten Zeiten. Doch meistens überwiegen eben die schlechten Zeiten, da die Stadt […] offensichtlich einem Sumpf aus Verbrechen, Nötigung, Prostitution und Erpressung gleicht.«
Gillian Brays überzogen-peinliche Darstellung der geistig zurückgebliebenen Donatella ist ein Wermutstropfen in diesem ansonsten mehr als sehenswerten Beitrag, in dem vor allem Raf Vallone als aufopferungsvoll-besorgter Vater schauspielerisch glänzt. Jahre vor Charles Bronson in »Death Wish« (Regie: Michael Winner) lässt ihn Tessari in seinem Thriller zum Tier werden. Dies geschieht allerdings nicht reißerisch. Dass hinter jedem guten Thriller eine (oft todtraurige) menschliche Tragödie steckt, haben Tessari und Vallone begriffen und geradezu brillant herausgearbeitet. Aufgrund der düsteren Ausgangssituation ist Grundtenor von »La morte risale a ieri sera« trostlos und traurig, was die nüchternen Bilder Lamberto Caimis noch unterstreichen. Tessari behandelt ein lautes Thema mit Diskretion, entschärft Abstoßendes durch Feingefühl und lässt die Nervosität des Ganzen gottlob nie in Hysterie umschlagen. Dies ist ein Schauspielerfilm mit dreidimensionalen Charakteren und ein erstaunlich seriöser Film aus einer Zeit, in der das keinesfalls in Mode war.

André Schneider

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