Filmtipp #301: Ein ungleiches Paar

Ein ungleiches Paar

Originaltitel: The Dresser; Regie: Peter Yates; Drehbuch: Ronald Harwood; Kamera: Kelvin Pike; Musik: James Horner; Darsteller: Albert Finney, Tom Courtenay, Edward Fox, Eileen Atkins, Michael Gough. GB 1983.

The Dresser

Mit 15, 16 entdeckte ich die große Schauspielkunst Albert Finneys, die mir den Atem verschlug: Night Must Fall, Two for the Road, »Saturday Night and Sunday Morning« (Regie: Karel Reisz), »The Entertainer« (Regie: Tony Richardson), »Murder on the Orient Express« (Regie: Sidney Lumet), »Gumshoe« (Regie: Stephen Frears), »Tom Jones« (Regie: Tony Richardson), »Under the Volcano« (Regie: John Huston), »Annie« (Regie: John Huston), »Shoot the Moon« (Regie: Alan Parker), »Wolfen« (Regie: Michael Wadleigh), »Miller’s Crossing« (Regie: Joel & Ethan Coen), »The Browning Version« (Regie: Mike Figgis) und so weiter — Filme, die ganz von ihm und seinem Spiel lebten. Er stand und steht für mich in einer Reihe mit den großen britischen Charakterköpfen von Vanessa Redgrave über Rachel Roberts, Maggie Smith, Laurence Olivier, Alec Guinness bis hin zu John Gielgud. Finney haftete eine Aura von freizügiger Libertinage an, sein Handwerk war schon in jungen Jahren beinahe perfekt. Der Bühne gab er — was ich als Jugendlicher äußerst sympathisch fand — stets den Vorzug und drehte vergleichsweise wenig Filme und machte kaum Fernsehen. Aus Auszeichnungen hatte er sich nie etwas gemacht; obwohl er bis heute fünf Mal für einen Oscar nominiert war, nahm er an keiner Zeremonie teil. Er hat auch kein Management oder eine Agentur, sondern kümmert sich bis heute selbst um seine Angelegenheiten. Nach Skyfall wurde es ein wenig ruhiger um ihn, vor einiger Zeit kursierte die Nachricht, er sei an Krebs erkrankt. Heute feiert Albert Finney seinen 80. Geburtstag, und ich möchte mit einem seiner feinsten Filme gratulieren.

Regisseur Yates beschrieb seine filmische Adaption von Ronald Harwoods erfolgreichem Bühnenstück »The Dresser« wie folgt: »Es ist eine Geschichte über das Theater als Leben und das Leben als Theater.«
Es geht um den ältlichen Leiter und Star eines kleinen Tournee-Theaters, der von allen nur ›Sir‹ genannt wird, und um Norman (wirklich brillant gespielt von Tom Courtenay), seinen Garderobier, Blitzableiter und Mädchen für alles. Die beiden verbindet eine innige, latent homosexuelle Beziehung, in der es eine klare Rollenverteilung gibt: ›Sir‹ ist der Herr, Norman sein Diener. Ein wenig erinnert der Film an The Servant von Losey. »The Dresser« spielt in England zu Zeiten des Weltkriegs. Die auf Shakespeare spezialisierte Theatertruppe tingelt im Bombenhagel durch das Land, um den geplagten Bürgern in diesen dunklen Tagen ein kleines Häppchen Kultur zu bringen. Kriegsbedingt besteht das Ensemble aus dem letzten Aufgebot derer, die nicht kriegstauglich sind: Gebrechliche, Debile, Gehbehinderte und Alte. So ist auch ›Sir‹ mit seinen Kräften am Ende. Nur dem niemals versiegenden Zuspruch Normans ist es zu verdanken, dass ›Sir‹ die heutige 227. Vorstellung von »King Lear« durchhält. Immer wieder treibt Norman ihn voran, weil er weiß, dass er ohne seinen Meister ein Nichts wäre. Nach der Aufführung jedoch bricht ›Sir‹ in seiner Garderobe zusammen und stirbt. In seinem Testament wird Norman mit keiner Silbe erwähnt — noch im Tod besteht ›Sir‹ auf der totalen Unterordnung des Dieners und der Wahrung der Klassenunterschiede.

»The Dresser« ist ein schwerer, melancholischer Film, der ganz auf die Kraft seiner Schauspieler zugeschnitten ist. Finney und Courtenay wurden beide für den Oscar nominiert (weitere Nominierungen gab es in den Kategorien Bester Film, Beste Regie und Bestes Drehbuch), Finney erhielt darüber hinaus auf der Berlinale 1984 den Silbernen Bären. Die Dialoge sind scharf geschliffen, die Bilder trist und von dunklen Brauntönen dominiert. Mit seiner strammen Inszenierung ist Yates ein wirkliches Kunststück gelungen, ein profundes Drama über menschliche Unzulänglichkeit und die unerschütterliche Liebe zum Theater.

André Schneider

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