Speak No Evil
Originaltitel: Speak No Evil/Gæsterne; Regie: Christian Tafdrup; Drehbuch: Christian Tafdrup, Mads Tafdrup; Kamera: Erik Molberg Hansen; Musik: Sune Kølster [Sune ›Køter‹ Kølster]; Darsteller: Morten Burian, Sidsel Siem Koch, Fredja van Huêt, Karina Smulders, Liva Forsberg. Dänemark/Niederlande 2022.
»Wieso tust du mir das an?« — »Weil du mich lässt.«
Rückblickend weiß ich nicht mehr, wie ich das hinbekommen habe, aber ich habe »Speak No Evil« tatsächlich sehen können, ohne auch nur das Geringste über ihn zu wissen. Heute, da wir allerorts mit Kritiken und Analysen bombardiert werden, ist es kaum noch möglich, sich einem Film (einem Buch, einem Album) unbefangen und völlig frei zu öffnen. Dafür wurde ich mit einem Filmerlebnis belohnt, das mich nachhaltig verstörte und prägte, wie ich es seit Possessor nicht mehr erlebt hatte. Als epochaler Horrorfilm vermarktet, dürfte dieser psychologische Arthaus-Thriller mit seinem gemächlich ansteigenden Spannungsbogen einige Genrefans bitter enttäuscht haben. Unterm Strich ist »Speak No Evil« ein gesellschaftspolitischer Film, vielleicht sogar eine Satire à la »Funny Games« (Regie: Michael Haneke). Als aufmerksamer, kinoaffiner Zuschauer glaubt man bald zu wissen, wohin der Hase läuft, bevor einem dann im letzten Drittel der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Es ist ein bitterböser, zynischer Streifen, den man nur einmal sehen muss. (Das anglophone Remake mit James McAvoy, das im Herbst 2024 in die Kinos kommen wird, kann man sich getrost sparen; der Trailer zeigt bereits, worauf Regisseur James Watkins den Fokus legt.)
Die Idee zu diesem Film kam Christian Tafdrup, als er im Toskana-Urlaub mit seiner Familie ein freundliches, aber sozial etwas unbeholfenes niederländisches Paar kennengelernt hatte. Man verstand sich gut und verbrachte viel Zeit miteinander. Als Tafdrup wieder zu Hause war, erhielt er von der Familie eine Einladung, bei ihnen in den Niederlanden zu wohnen. Er überlegte kurz, ob er das Angebot annehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen, da er den Gedanken, bei Leuten zu wohnen, die er nicht wirklich kannte, seltsam fand. Er traf sie nie wieder, konnte aber nicht aufhören, darüber nachzudenken, was hätte passieren können, wenn er das Angebot angenommen hätte. So wurde die Idee zu »Speak No Evil« geboren. (Tafdrup betonte später noch einmal, dass das holländische Paar aus seinem eigenen Urlaub ohne Zweifel gute Menschen waren und es sich bei seinem Film lediglich um eine dunkle Fantasie handele.)
Das dänische Paar im Film, Bjørn (Burian) und Louise (Koch), fallen letzten Endes ihrer falschen Höflichkeit zum Opfer. Wie der Zuschauer begreifen auch sie zu spät, in was für ein Netz sie sich verstrickt haben. Sie sind handlungsunfähig oder –willig. Es ist nahezu unerträglich mitanzusehen, dass sie sich nicht wehren oder einen ernsthaften Fluchtversuch starten. Ihre Peiniger bedrohen sie nicht mit einer Waffe und haben auch nicht — anders als in anderen Filmen dieser Art — ihren Wagen geschrottet, de facto hindert sie also nichts daran, den Ort des Schreckens zu verlassen. Am Ende bleibt ein selbstmitleidiges passives Ergeben, das auf den ersten Blick rückgradlos wirkt. Bjørn beschützt weder Frau noch Kind (Forsberg) und setzt den Schlägen Patricks (van Huêt) nichts entgegen. Somit manifestiert sich die letzte Konsequenz, die grausame Ausweglosigkeit, als einzig mögliches Szenario.
Die Tafdrup-Brüder versuchten in mehreren Drehbuchentwürfen, dem niederländischen Paar ein Motiv für seine Grausamkeit zu geben, doch diese alternativen Enden funktionierten nicht und verstimmten den Regisseur empfindlich, da er »keinen Netflix-Film drehen wollte, in dem alles erklärt wird«. In der Tat bezieht »Speak No Evil« seinen Schrecken, der weit über den Abspann hinausgeht, aus der Abwesenheit jeglicher Rationalität oder Plausibilität. Die ruhige Gelassenheit, mit der Patrick und seine Frau (Smulders) ihre Verbrechen begehen, hat etwas von einem infernalen Uhrwerk. Sie sind eine Naturgewalt. Nicht umsonst lässt das Ende einen an das Jüngste Gericht denken. Die verweichlichte Lauch-Familie, politisch korrekt bis in den Tod, hat gegen die skrupellosen Psychos keine Chance.
Gestalterisch muss die Musik von Sune Kølster sowie das Sounddesign hervorgehoben werden. Hier wird wirklich alles gegeben, was nötig ist. Die latente Bedrohung wird in jeder noch so harmlos scheinenden Sequenz hörbar gemacht, und sei es nur das Rollen der Räder über spröden Asphalt. Oft wird uns das Geschehen aus der Vogelperspektive gezeigt — der Blick Gottes? —, wir fühlen uns benommen, desorientiert, bevor uns die Handkamera auf Augenhöhe direkt ins Geschehen schleudert. Die Schauspieler, die diesen Film in beeindruckender Weise tragen, wurden weltweit mit Lobeshymnen bedacht. Der Kritiker Walter Gasperi schrieb: »Auf kleiner Flamme köchelt Tadrup lange, setzt auf Slowburn-Horror statt auf knallige Effekte, steigert dann […] die Bedrohung und den Schrecken mächtig, als Bjørn eine schockierende Entdeckung macht. Bestechend schließt sich der Kreis zum Anfang auch am Ende, das […] dafür sorgt, dass dieser Thriller einen nicht so schnell loslassen, sondern nachhallen wird.« Ein absoluter Tipp!
André Schneider