Filmtipp #492: Wenn die Nacht anbricht

Wenn die Nacht anbricht

Originaltitel: Nightfall; Regie: Jacques Tourneur; Drehbuch: Stirling Silliphant; Kamera: Burnett Guffey; Musik: George Duning; Darsteller: Aldo Ray, Brian Keith, Anne Bancroft, Jocelyn Brando, James Gregory. USA 1956.

nightfall

In Frankreich gibt es seit 2012 von dem großartigen Label WildSide eine irrsinnig gute DVD-Edition dieses seltenen Vertreters des film noir, ausgestattet mit einer eigens produzierten Dokumentation und einem 80seitigen Booklet des Filmhistorikers Philippe Garnier.
Jacques Tourneur, 1912 in Paris geboren, hatte eine florierende Karriere im B-Movie-Sektor Hollywoods, wurde jedoch leider erst nach seinem Tode — er verstarb 1977 in Bergerac — als Künstler anerkannt. »Out of the Past« (1947), sein grandioser film noir mit Robert Mitchum, Kirk Douglas und Jane Greer, war ein Riesenerfolg gewesen, so dass er neun Jahre später im Auftrag der Columbia noch einmal zu diesem Genre zurückkehren durfte. »Nightfall« fiel qualitativ nicht ganz so hochwertig aus und heimste weiß Gott keine Lorbeeren ein, konnte jedoch in den letzten 60 Jahren an Anerkennung gewinnen; vor allem Burnett Guffeys exzellente Bildgestaltung und Lichtsetzung darf nicht unerwähnt bleiben.

Los Angeles in der Abenddämmerung: James Vanning (Ray), seines Zeichens Werbegrafiker, steht gerade an einem Zeitungsstand, als allerorts die Straßenlaternen angehen und der Abend hereinbricht. Als er so durch die Straßen schlendert, wird er vor einem Restaurant von einem Fremden (Gregory) angesprochen, ob er ihm Feuer geben könnte. Während der Fremde auf den Bus wartet, kommt man kurz ins Gespräch — wie schwül es sei, und ob Vanning schon einmal in den Tropen gewesen wäre. Ja, sagt dieser, als Soldat in Okinawa. Dann trennen sich die Wege der beiden Männer; der Fremde steigt in den Bus, Vanning betritt das Restaurant. Dort lernt er zufällig eine geheimnisvoll-schöne Frau (Bancroft) kennen, die sich als Marie Gardner vorstellt und ihn bittet, ihr fünf Dollar zu leihen. Der Grafiker ist hilfsbereit, leiht ihr das Geld und lädt sie galanterweise ein, mit ihm zu speisen. Währenddessen entsteigt der Fremde, der Ben Fraser heißt und mit Laura (Brando) verheiratet ist, dem Bus und geht nach Hause. Er ist Versicherungsdetektiv und beschattet Vanning schon seit geraumer Zeit. Er kennt jeden seiner täglichen Abläufe und Routinen. Fraser befindet sich auf der Suche nach einer großen Geldsumme, die zwei skrupellose Bankräuber (Keith, Rudy Bond) gestohlen haben. Die Wege von Vanning und seinem Freund Edward (Frank Albertson) hatten sich mit denen der Diebe vor nicht allzu langer Zeit in Wyoming gekreuzt. Edward hatte die Begegnung nicht überlebt, Vanning wie durch ein Wunder schon; er hatte sogar die Diebesbeute von 350.000 Dollar gefunden, sie aber gleich wieder im Schneesturm verloren. Er ahnt, dass man noch immer hinter ihm her ist…

Der film noir war Mitte der 1950er Jahre noch einmal kurzzeitig aufgeflammt und brachte einige kleine Klassiker hervor, Fritz Langs »The Big Heat« (1953) beispielsweise. Tourneur inszenierte seinen deftigen Streifen nach einer exzellenten Romanvorlage von David Goodis. Dessen Einzeiler werden, so schrieb ein Rezensent, »wie Kirschkerne aufs Pflaster der Metropole Los Angeles gespuckt«. Die erstklassige Besetzung trägt den dynamisch gefertigten Thriller und hebt ihn deutlich über den Durchschnitt. Die kunstvoll ausgeleuchteten Bilder, die ich eingangs schon erwähnte, sorgen für die fesselnde Atmosphäre, für die Tourneur seit jeher ein Händchen hatte, man denke nur an Cat People. Keine Einstellung ist überflüssig, hier wird sich nicht mit Nebensächlichkeiten aufgehalten, so dass man bei einer Laufzeit von 76 Minuten das Gefühl hat, ein Musterbeispiel exemplarischer Stringenz beigewohnt zu haben. Tourneur war ein Meister der Ökonomie, er schaffte es wie kaum ein anderer Zeitgenosse, ein ganzes Universum fesselnd zu komprimieren; I Walked with a Zombie beispielsweise dauerte gerade einmal 65 Minuten. »Nightfall« trägt deutlich die Handschrift David Goodis’, dessen kunstvolle narrative Struktur derer Tourneurs ebenbürtig war. In Verschachtelungen und Rückblenden entfächert sich peu à peu Vannings Geheimnis, was der Spannung äußerst zuträglich ist. Die erste Stunde von »Nightfall« ist ausgesprochen clever konstruiert, dann kommt unglücklicherweise ein Bruch, als aus dem film noir ein Abenteuerfilm wird, der im Schnee spielt. Anne Bancrofts Figur darf nur noch einige Halbsätze zur Handlung beitragen, James Gregory alias Ben Fraser wird immer unglaubwürdiger, was unmotivierten Handlungen und an den Haaren herbeigezogenen Wendungen geschuldet ist. Man muss schon Nachsicht üben, um den Machern die letzte Viertelstunde des Streifens nicht übel zu nehmen; das Potential, welches in der ersten Stunde aufgebaut wurde, verpufft einfach. Dennoch ist »Nightfall« ein interessanter Film, der in Deutschland leider unbekannt geblieben ist. Er lief am 24. November 1979 im Fernsehen und wird so gut wie nie wiederholt. Mein Buchtipp: »Jacques Tourneur: The Cinema of Nightfall« von Chris Fujiwara und Martin Scorsese.

André Schneider

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