Filmtipp #819: Score

Score

Originaltitel: Score; Regie: Radley Metzger; Drehbuch: Jerry Douglas; Kamera: Frano Vodopivec; Musik: Robert Cornford; Darsteller: Claire Wilbur, Casey Donovan [Calvin Culver], Lynn Lawry, Gerald Grant, Carl Parker. USA/Jugoslawien 1973.

Score

Der erste Metzger-Film, den ich sah, war »The Cat and the Canary« (1978), ein starbesetzter Whodunit in bester Christie-Manier — und sein einziger Ausflug ins Mainstream-Kino. Zuvor hatte er sich seit den frühen 1960ern einen Namen als Erotikfilmguru gemacht, zunächst im Softsex-Bereich à la Russ Meyer, dann, ab ca. 1974, mit einer Reihe von Hardcore-Streifen wie zum Beispiel »The Opening of Misty Beethoven« (1976). Radley Metzger war, das darf man heute durchaus sagen, ein Zeitgeist-Phänomen und erreichte seinen Karrierehöhepunkt im Golden Age of Porn (1969 bis 1984). In den USA gab es die Phase des porno chic, in der Erwachsenenfilme wie »Deep Throat« (Regie: Gerard Damiano) in größerem Umfang vertrieben und öffentlich diskutiert wurden. Kritiker wie Roger Ebert nahmen sich dieser Werke an, Johnny Carson und Bob Hope sprachen in ihren Talkshows darüber. Metzgers Filme zeichneten sich, so die zeitgenössische Filmkritik, durch »ihr aufwendiges Design, witzige Drehbücher und eine Vorliebe für ungewöhnliche Kameraperspektiven« aus, seine Filme seien »hoch künstlerisch — und oft zerebral […] und oft mit einer großartigen Kinematografie ausgestattet«. Als der Filmemacher 2017 im Alter von 88 Jahren in seiner Heimatstadt New York starb, waren seine Film- und Audioarbeiten längst schon in der ständigen Sammlung des Museum of Modern Art (MoMA) aufgenommen.
Unlängst sah ich seinen 1969 in Italien entstandenen Semi-Klassiker »Camille 2000« (mit Danièle Gaubert) und war zwiegespalten: Metzgers Adaption der Dumas’schen »Kameliendame« war ambitioniert und definitiv einen Blick wert, aber abendfüllend war das nicht. »Du bist eine Hure, ich bin ein Idiot«, stand mit Lippenstift auf dem Rücken einer hübschen Nackten (Dominique Badou) als Botschaft für Marguerite Gautier geschrieben. Willkommen im Beziehungsleben! Der süße, leider kürzlich verstorbene Nino Castelnuovo spielte den ergebenen Liebenden, der einer ganz bösen Intrige zum Opfer fällt. Dass die Schmonzette sich mit dem Garbo-Klassiker nicht vergleichen lässt, ist klar. Die schauspielerischen Leistungen zwischen den pseudokünstlerisch eingefangenen — Stichwort: viele, viele Spiegel! — Kopulationsspielchen sind nicht besonders, und die lausige, zuweilen sleazige deutsche Synchronisation macht dem Ganzen den Garaus. Selbst die Musik von Piero Piccioni geht einem auf die Nerven. Die Schauwerte allerdings sind nicht zu leugnen: Rom anno 1969. Die ewige Stadt, so schön eingefangen wie selten zuvor. Überhaupt: tolle Kamera, klasse Ausstattung, swinging sixties deluxe! Leider unterm Strich etwas überlang und zu sehr auf Anspruch getrimmt, dieses kleine Exploitationfilmchen, das, ähnlich wie sein Nachfolger (»The Lickerish Quartett«, 1970), zum Kultfilm avancierte.

»Score«, der im Sommer 1972 innerhalb von fünf Wochen im damaligen Jugoslawien gedreht wurde, gilt als eine von Radley Metzgers besten Arbeiten. Der Film entstand frei nach Jerry Douglas’ gleichnamigem Off-Broadwaystück, welches am 28. Oktober 1970 im New Yorker Martinique Theater uraufgeführt wurde und in dem der junge Sylvester Stallone einen seiner ersten Bühnenauftritte gehabt hatte. (Seine Rolle, die des Handwerkers Mike, wurde im Film von Carl Parker gespielt, da Stallones Auftreten in Metzgers Augen nicht europäisch genug war.)
Schauplatz ist die fiktive Küstenstadt Leisure irgendwo in Europa; vielleicht ist es die Riviera, wir wissen’s nicht, »Score« spielt in einer filmischen terra incognita, was dem mysteriösen, dem Weltlichen urlaubshaft entrückten Flair des Streifen angenehm zuträglich ist. In besagtem Städtchen lebt das Ehepaar Jack (Grant) und Elvira (Wilbur), die eine scheunentoroffene Ehe führen und eine Art Wettkampf ausfechten, wer von beiden der/die erfolgreichere Verführer/Verführerin ist. Dass die beiden bisexuell sind, öffnet bei diesem koketten Spiel ganz neue Horizonte. Elvira, die sich selbst als »sexuellen Snob« bezeichnet, wettet, dass sie die frisch verheiratete Betsy (Lowry), die mit dem attraktiven Meeresbiologen Eddie (Donovan) verheiratet ist, verführen kann. Sollte sie bis Mitternacht versagen, darf Jack Eddie verführen. Soweit zur Ausgangssituation.
Während Jack und Eddie getrennt zur Arbeit gehen, besucht Betsy ihre neue Freundin Elvira in deren luxuriösen Haus und lauscht gebannt deren offenherzigen Schilderungen von Partnertausch und Drogengenuss. Als Mike, der Telefonreparateur, auftaucht — Elvira hatte vor Betsys Ankunft das Telefon in der Hoffnung, dass ein heißer Mann kommen würde, sabotiert —, schaut Betsy, gleichsam fasziniert und schockiert, dabei zu, wie Elvira ihn verführt. Betsy gibt zu, dass sie in ihrer Ehe nicht wirklich glücklich ist, vor allem seit sie Eddie beim Onanieren im Bad erwischt hat, aber sie macht Elvira auch klar, dass ihr Swinger-Leben nichts für sie sei, da sie im Grunde ihres Herzens immer noch das katholische Schulmädchen geblieben sei, das sich vor den Strafen der gestrengen Nonnen fürchtet.
Jack und Elvira laden ihre neuen Freunde zu einer Soirée ein, bei welcher Gras geraucht wird. Sie holen eine Kiste mit Kostümen hervor und beschließen, sich spielerisch zu verkleiden: Jack ist ein fescher Matrose, Betsy probiert ein heißes Négligé an und Elvira steht plötzlich — zu Betsys Entsetzen und Jacks Vergnügen — als Nonne vor ihnen. Eddie wird schließlich überredet, sich als Cowboy zu verkleiden. Sie sind high und lachen. Im Laufe des Abends trennen sich die beiden Frauen und die beiden Männer…

Lesbische Eskapaden waren in der Pornowelt auch anno 1972 nicht neu — und schon gar nicht in den Filmen Radley Metzgers. Schwule Männerpaare allerdings waren (und sind) in diesem Kontext heikel. »Score« ist zweifellos das transgressivste Werk in Metzgers Filmographie, nicht durch Design oder Ausstattung, sondern schlicht durch seine bloße Existenz. Dabei ist die Story gar nicht mal doof: Das sexuell »befreite«, also libidinöse Paar möchte die verklemmten Unschuldsgesichter verderben. Jack und Elvira haben ihre Ehe als einen langjährigen Wettbewerb definiert, bei dem es für jede erfolgreiche Verführung eines Außenstehenden Punkte gibt; gleichgeschlechtliche Eroberungen werden doppelt bewertet.
Die frechen Doppeldeutigkeiten und Verkleidungsspielchen sind der Auftakt zu einem virtuosen Sex-Diptychon, in welchem die Damen Elviras Vorrat an Dildos, Chiffontüchern und Amylnitrit (also Poppers) im oberen Boudoir aufbrauchen und Jack im Untergeschoss zwischen 8-Millimeter-Schwulenporno-Loops und neonblauem Zottelteppich erfolgreich die Penetrationsgrenze mit dem (nicht ganz so zögerlichen) Eddie durchbricht. Metzgers tadellose Regie zeigt, dass er sich der drohenden Skrupellosigkeit seines ahnungslosen Publikums gegenüber der Bisexualität bewusst ist, indem er die Momente des nervösen Humors und des großen Eifers seines unbestreitbar attraktiven »unschuldigen« Paares hervorhebt. Der von Betsy immer wieder ins Spiel gebrachte Satz »Am I high yet?« erklingt wie ein fröhlicher Refrain ihrer eigenen Entjungferung.
Der schwule Sex wird von Metzger nicht im geringsten verweichlicht; der Regisseur vermeidet alles, um nicht prüde zu wirken. Ich bin kein großer Kenner von pornographischen Filmen, aber ich glaube nicht, dass eine Erektion jemals so majestätisch und schön in Szene gesetzt wurde wie die von Gerald Grant, der sich vor Casey Donovan aufbaut. Metzger verwirrt genüsslich die zerbrechliche Psyche von Eddie — offensichtlich die Figur, mit der sich das überwiegend heterosexuelle männliche Publikum in Metzgers Blütezeit identifizieren musste, da er es am längsten aushält —, wenn er sich vorstellt, dass seine Frau ihm anstelle von Jack in den Arsch fickt und die beiden die Plätze tauschen, bis er sich schließlich für Jack entscheidet.

Die Ära des bisexual chic war eine Mode von kurzer Dauer, so kurz, dass nur wenige Filme die Gelegenheit hatten, aus ihr Kapital zu schlagen. Das macht »Score« zu einem einzigartigen und unterhaltsamen Erlebnis. In der heutigen Zeit, in der bisexuelle Filme für Erwachsene allgemein als schrecklich angesehen werden, entführt uns der Streifen in ein Genre, das hätte sein können, aber leider nie war. Seinen exploitativen Zeitgenossen ist dieser witzig geschriebene, sorgfältig besetzte und in bester Arthaus-Manier inszenierte Film dabei haushoch überlegen.
Zwar ist »Score« ein Ensemblefilm, in dem jeder eine gute Figur macht, aber letztlich dreht sich das Geschehen um die erstaunliche Leistung von Lynn Lowry, die später unter anderem für Meister wie David Cronenberg, Paul Schrader und George A. Romero vor der Kamera stand. Ihre Verwandlung von dem »errötenden katholischen Schulmädchen« zur sexuellen Abenteurerin gelingt ihr mühelos. Die Veränderung zeigt sich nicht bloß in den Dialogen, sondern vor allem in ihren schönen Augen, die zum Ende des Films in einem neuen, wissenden Licht erstrahlen. Claire Wilbur hatte die Elvira bereits in der Bühnenfassung gespielt und gibt eine bravouröse Vorstellung: elegant, charmant, schamlos. Gerald Grant bringt eine selbstverständliche, lockere Sexualität mit, die auf der Leinwand einfach unwiderstehlich ist. Casey Donovan, der zum damaligen Zeitpunkt bereits unter Wakefield Pooles Regie Pornogeschichte geschrieben hatte, war der vielleicht bekannteste Name auf der Besetzungslitze. (Lowry ist von den vier Stars des Films die einzige, die noch lebt. Donovan und Grant starben an Aids, Wilbur 2004 an Lungenkrebs.) Carl Parker rundet in seiner Nebenrolle die Besetzung ab. Er hat wenig zu tun, muss nur sexy aussehen, aber das macht er gut. So gut, dass Metzger ihm später in »The Image« (1976) eine größere Rolle gab.

»Score« feierte seine Weltpremiere am 5. November 1973 in Boston, und es sollte noch mehr als ein halbes Jahr dauern, bis der Film in Los Angeles und New York zur Aufführung kam. Damals war dem Film kein allzu großer Erfolg beschieden, erst über die Jahre konnte er sich zum Kultfilm mausern. Heute, in den boring twenties des 21. Jahrhunderts, ist die sexuelle Arena eine völlig andere. Die kurze und freudige Zeit, die in »Score« erforscht wird, ist lange vorbei. Der fröhliche, erotische und lustige Spaß, den der Film bietet, ist heute nicht mehr auffindbar. Die Unbeschwertheit ist tot. Um Justin Bond aus Shortbus zu zitieren: »It’s just like the sixties. Only with less hope.«
Frühere DVD-Veröffentlichungen von »Score« enthielten lediglich die stark gekürzte Soft-Fassung, während das neue Release von Cult Epics die Komödie in all ihrer ungekürzten Pracht zeigt. Dazu gibt’s eine Fülle von Extras, inklusive eines Kommentars des Regisseurs und einem spannenden Interview mit Lynn Lowry.

André Schneider

2 thoughts on “Filmtipp #819: Score

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