Filmtipp #512 & #513: Die Büchse der Pandora & Tagebuch einer Verlorenen

Louise Brooks, 1929, fotografiert von Eugene Robert Richee: "Pearls".

Louise Brooks, 1929, fotografiert von Eugene Robert Richee: “Pearls”.

Liebeserklärung an Louise Brooks

Was wäre die Filmgeschichte nur ohne dieses Gesicht? — Eine beunruhigende Frage. Garbo wäre ohne Louise Brooks nicht denkbar gewesen. Dietrich auch nicht. Und somit auch nicht die Monroe, die Hepburn, Madonna. Louise Brooks war pop culture.
»We didn’t need dialogue. We had faces!«, sagte Norma Desmond alias Gloria Swanson in Billy Wilders »Sunset Blvd.« (1950). Wenn ich mir heute die beiden Brooks-Filme von Georg Wilhelm Pabst anschaue, beide im Deutschland der späten 1920er entstanden und später unter Hitler verboten, finde ich, dass das in ihrem Fall zutrifft: Louise Brooks brauchte keine Worte. Alles, was von Belang war, transportierte sie durch ihre Blicke, ihr Lächeln. Eine klare Stirn, feine Haut, der freche Pagen-Haarschnitt, den sie berühmt machte, die eruptive erotische Kraft: star appeal. Und hinter ihrem Lächeln etwas Mysteriöses, eine tiefe Traurigkeit und Schwere. Ein Gesicht, das entdeckt werden wollte und dennoch unergründlich und fern blieb. Schauspielerisch setzte sie den großen theatralischen Gesten, dem gängigen Expressionismus des Filmschauspiels eine frappierende Natürlichkeit gegenüber und kontrastierte dadurch merklich. — Ihre Karriere war kurz. Zwar schaffte sie den Sprung vom Stumm- zum Tonfilm, aber ihre aufmüpfige Art war in Hollywood ungern gesehen. Zu oft lehnte sie Rollen ab, weil ihr die Drehbücher nicht passten. 1938, Louise war gerade 32 Jahre alt, war Schluss, sie bekam keine Arbeit mehr und fing notgedrungen an, für 40 Dollar die Woche als Verkäuferin zu arbeiten. Sie geriet schnell in Vergessenheit. Ihre Filme wurde nicht mehr gespielt. Unter falschem Namen versuchte sie vergebens, wieder Fuß zu fassen. Erst in den Fünfzigern, als sie einige Essays und ihre erste Autobiographie »Naked on My Goat« veröffentlicht hatte, erinnerte man sich wieder — wenn auch nur kurzfristig. Später, in den 1970ern, wurde sie — zum Glück noch rechtzeitig — ein drittes Mal entdeckt und endlich auch als Schauspielerin und Künstlerin wertgeschätzt. Louise Brooks erlebte dies mit einer gewissen Genugtuung und genoss ihren späten Triumph.

Louise-Postkarten (die mit den Perlenschnüren) sind heute noch (oder wieder) populär. Neil Gaiman bedachte sie in seinem Roman »American Gods« (seine Figur Czernobog nennt sie die »greatest American actress of all time«), und 1991 schrieb die englische Band OMD den Song »Pandora’s Box« für und über sie. Der Text ist an sie adressiert, wie ein posthumer Liebesbrief. Das Video ist eine einzige Hommage an ihr Gesicht, gespickt mit Bildern und Clips aus ihrem ersten Pabst-Film.

Born in Kansas on an ordinary plain
Ran to New York but ran away from fame
Only seventeen when all your dreams came true
But all you wanted was someone to undress you
And all the stars you kissed could never ease the pain
And if the face has changed the grace remains
And you’re still the same

And it’s a long long way from where you want to be
And it’s a long long road, but you’re too blind to see

Frame of silence of an innocent divine
Is a dangerous creation when you fail the test of time
And all the photographs of ghosts of long ago
Still they hurt you so, won’t let you go
And you still don’t know

And it’s a long long way from where you want to be
And it’s a long long road, but you’re too blind to see

When you look around yourself now, do you recognize the girl
The one, who broke a thousand hearts, terrified the world

And all the stars you kissed could never ease the pain
And if the face has changed the grace remains
And you’re still the same

And it’s a long long way from where you want to be
And it’s a long long road, but you’re too blind to see

Der Ton des Songs, seine schafswollweiche Melancholie und schwungvolle Grandezza treffen Louise Brooks’ Wesen genau. — Sie lebte übrigens seit 1938 allein. Sie starb am 8. August 1985 im Alter von 78 Jahren.
Unbedingt kaufen: Die beiden Pabst-Filme sowie das von Peter Cowie geschriebene Buch »Lulu Forever« — ich garantiere Euch, Ihr werdet Euch verlieben! Ebenfalls sehenswert: »Looking for Lulu«, ein Dokumentarfilm über Louise, der von keiner Geringeren als Shirley MacLaine erzählt wird.

Die Büchse der Pandora

Originaltitel: Die Büchse der Pandora; Regie: Georg Wilhelm Pabst; Drehbuch: Ladislaus Vajda, Georg Wilhelm Pabst, Joseph Fleisler; Kamera: Günther Krampf; Musik: Timothy Brock; Darsteller: Louise Brooks, Fritz Kortner, Franz Lederer, Gustav Diesel, Carl Goetz. Deutschland 1929.

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Am 17. Oktober 1928, also vor bald 90 Jahren, fiel in dem Berliner Nero-Film Studio die erste Klappe für diese Wedekind-Verfilmung (frei nach den Dramen »Erdgeist« und »Die Büchse der Pandora«), die sowohl für Louise Brooks als auch für ihren Regisseur G. W. Pabst der wichtigste Film werden sollte — und ein Welterfolg. Die Dreharbeiten dauerten bis zum 23. November desselben Jahres. Brooks verkörperte in diesem Streifen einen völlig neuen Frauentyp: die dangerous creation einer innocent divine, leidenschaftlich, unschuldig, berechnend und vor allem: selbstbestimmt. Eine Frau mit eigenständiger, emanzipierter Sexualität. Das war anno 1928 (zumindest im Film) ein Novum. — Brooks’ Wedekind’sche Lulu ist eine Tänzerin, die reihenweise Herzen bricht. Männer wie Frauen liegen ihr zu Füßen. So auch Dr. Schön (Kortner), ein einflussreicher, wohlhabender Verleger, der sich mit der Schönen zwar amüsieren, sie aber aus gesellschaftlichen Gründen nicht ehelichen möchte. Ein von Lulu initiierter Skandal verhindert Dr. Schöns Hochzeit mit einer anderen Frau. Eher aus Resignation geht er schließlich den Bund der Ehe mit Lulu ein, doch schon in der Hochzeitsnacht kommt Dr. Schön ums Leben, als sich in einem Handgemenge mit seiner frisch Angetrauten ein Schuss löst. Das Gericht spricht die Tänzerin des Totschlags schuldig, doch Lulu gelingt die Flucht. Sie beginnt eine stürmische Affäre mit Dr. Schöns Sohn Alwa (Lederer), der mit ihr bis nach London flieht. Doch dort fällt die Unglückselige dem Serienkiller Jack the Ripper (Diesel) in die Hände…

G. W. Pabst musste einige Zeit warten, ehe Paramount Louise Brooks für ihr Deutschland-Debüt freigab. In der Zwischenzeit saß schon die Zweitbesetzung in seinem Büro bereit, um den Vertrag zu unterschreiben: Marlene Dietrich, damals noch eine unbekannte Varieté-Aktrice. Schließlich gab das Studio grünes Licht und ließ Brooks nach Berlin reisen. Fritz Kortner hasste seine Partnerin, die er für eine Amateurin hielt, und konnte es bis an sein Lebensende nicht verwinden, von Brooks an die Wand gespielt worden zu sein.
Am 30. Januar 1929 erteilte die Filmprüfstelle Berlin dem Film ein striktes Jugendverbot, am 9. April 1934 wurde »Die Büchse der Pandora« auf Antrag des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda gänzlich verboten. Der 132minütige Streifen ist erst seit wenigen Jahren wieder ungekürzt und dank des Filmmuseums München mit neuem Vorspann und neuen Zwischentiteln zu genießen. Alice Roberts als Lulus Gespielin Gräfin Geschwitz war übrigens die erste offen lesbische Figur der Filmgeschichte.

Tagebuch einer Verlorenen

Originaltitel: Tagebuch einer Verlorenen; Regie: Georg Wilhelm Pabst; Drehbuch: Rudolf Leonhardt; Kamera: Sepp Allgeier, Fritz Arno Wagner; Musik: Otto Stenzeel; Darsteller: Louise Brooks, Fritz Rasp, Valeska Gert, Sybille Schmitz, André Roanne. Deutschland 1929.

tabebuch-einer-verlorenen

Pabsts zweiter Film mit Louise Brooks — im Juni 1929 gedreht — bot wirklich alles, was die sogenannten »Sittenfilme« der 1920er ausmachte. Die Story liest sich mit ihren verschlungenen, schicksalhaften Wendungen wie ein drittklassiger Groschenroman, wurde von Pabst jedoch geschickt in Szene gesetzt und beinhaltet vor allem jene Kritik an den bürgerlichen Moralvorstellungen, die mit Hitlers Machtergreifung vier Jahre später über Nacht wieder eingefroren wurde. Von Margarete Böhmes Roman wurden hierbei nur einige Grundzüge übernommen, der Film ist als eigenständiges Werk zu begreifen. In »Tagebuch einer Verlorenen« verkehrt sich die Welt auf erschreckende Weise: Das bürgerliche Zuhause, sonst Hort der Harmonie, des Anstands und der Sicherheit, erweist sich als trügerische Brutstätte für Intrigen und Gewalt, und die Besserungsanstalt, die den gefallenen Mädchen wieder die Insignien der Keuschheit ins Bewusstsein rufen soll, gleicht angesichts ihrer sadistischen Leiter eine präfaschistischen Erziehungslager. Als Zufluchtsort dient hier ausgerechnet ein Bordell; der einzige Ort, an dem die beiden verschreckten Mädchen so etwas wie Geborgenheit und Wärme erfahren.

Das Mädchen Thymian (Brooks), Tochter des Apothekers (Josef Rovensky), muss am Tag ihrer Konfirmation mitansehen, wie die Haushälterin ihres Vaters des Hauses verwiesen wird und Selbstmord begeht. In derselben Nacht wird sie, während sie bewusstlos ist, von Meinert (Rasp), einem Angestellten ihres Vaters, vergewaltigt und geschwängert. Nachdem sie das uneheliche Kind — welch eine Schande! — zur Welt gebracht hat, soll Thymian in eine Erziehungsanstalt gesteckt werden, wo sie unter der strengen Fuchtel des Anstaltsleiters (Andrews Engelmann) und dessen Frau (Gert) anständig und rein werden soll. Während ihr Kind bei einer Ziehmutter aufwächst, leidet Thymian in der einem Gefängnis nicht unähnlichen Anstalt so sehr, dass sie eines Tages ausbricht. Sie eilt zu ihrem Kind — nur um feststellen zu müssen, dass es bereits tot ist. Ihr Vater hat zwischenzeitlich auch noch seine nichtsnutzige Haushälterin Meta (Franziska Kinz) geheiratet. Thymian folgt ihrer Freundin Erika (Edith Meinhardt) in ein Bordell, wo sie als Prostituierte jobbt. Als der alte Apotheker stirbt und Thymian dessen gesamten Besitz erbt, scheint sich das Blatt für sie endlich zum Guten zu wenden…
In einer Nebenrolle ist Kurt Gerron zu sehen, der 1944 von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde. Er spielte bis 1932 in weit über 70 Filmen mit und sang seinerzeit als Allererster die »Moritat von Mackie Messer«.

André Schneider

2 thoughts on “Filmtipp #512 & #513: Die Büchse der Pandora & Tagebuch einer Verlorenen

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