Filmtipp #296: Züchte Raben…

Züchte Raben…

Originaltitel: Cría cuervos…; Regie: Carlos Saura; Drehbuch: Carlos Saura; Kamera: Teo Escamilla; Musik: Federico Mompou, José Luis Perales; Darsteller: Geraldine Chaplin, Mónica Randall, Ana Torrent, Florinda Chico, Héctor Alterio. Spanien 1976.

cría cuervos

Das spanische Sprichwort: »Cría cuervos, y te sacarán los ojos« (zu Deutsch: »Züchte Raben, und sie werden dir die Augen aushacken«) beschreibt in klaren Worten die Folgen von Kindesvernachlässigung. Dieser prägnante Satz sollte bereits in der Schlussszene von Sauras vorigem Film fallen, in der ein unbeugsames Kind gezüchtigt wird. Auch in »Cría cuervos…« geht es um ein Kind — Ana —, das sich gegen seine Erzieher auflehnt, wenngleich das Aushacken der Augen nur in ihrer Imagination geschieht.

Wir schreiben das Jahr 1975. Ana (Torrent) wird Zeugin, wie ihr Vater Anselmo bei einem Schläferstündchen mit der Frau seines besten Freundes an einem Herzinfarkt verreckt. Einige Monate zuvor hatten sie und ihre zwei Schwestern bereits ihre Mutter (Chaplin) verloren — Krebs. Ana gab ihrem Vater die Schuld am Tode der Mutter, mit der sie auf liebevollste Weise verbunden war und deren Wärme ihr schmerzlich fehlt. Eine gefühlskalte Tante übernimmt nun die Erziehung der drei Mädchen und die Pflege der kranken Großmutter. Trotz der Nähe zu ihren Schwestern und der Freundschaft mit dem herzensguten Dienstmädchen Rosa bleibt Ana im Innersten allein und isoliert. Mikroskopisch genau nimmt sie die Veränderungen in ihrer Umwelt sowie das rücksichtslose und verlogene Verhalten der Erwachsenen wahr und verpuppt sich immer mehr in ihrem eigenen kleinen Kokon, in der sich alles um den Tod zu drehen scheint…

Die Filme des spanischen Meisters Carlos Saura hatten es wahrlich sehr schwer: In seinem Heimatland hatte der Regisseur noch bis 1976 schwer mit der Zensur zu kämpfen und fuhr kaum je einen großen Kassenerfolg ein. Einzig auf dem Parkett der internationalen Filmfestivals durften seine schwermütigen Werke glänzen; dort erhielten sie den Applaus und Respekt, der ihnen gebührte. In Deutschland fand sich für praktisch keinen seiner Filme ein Verleih, der ihn in die Kinos bringen wollte. Erst in den 1980ern liefen sie im Nachtprogramm der öffentlich-rechtlichen Sender. »Cría cuervos…« gilt gemeinhin als eines seiner poetischsten und schönsten Werke, mit seinem unkonventionell verschachtelten Erzählstil schweift er ab in Rückblenden, langsam reflektierende Beobachtungen und episodenhafte Beschreibungen. Die Erinnerungen sind in Anas abstraktes Gedächtnis übergegangen und demzufolge nicht linear. Die Kindheit ist für Saura mitnichten eine Periode unbeschwerten Glücks und unschuldiger Ausgelassenheit; seine (Film-)Kinder sind Teil einer korrupten und verdorbenen Militärfamilie, entsprungen einem Haus voller Zwänge und Gesetze, die nicht zu verstehen, sondern nur zu befolgen sind. Abweichendem Verhalten und gelegentlichen Ausbruchsversuchen begegnet man mit Unverständnis, Hilflosigkeit und Arroganz.
»Cría cuervos…« war der erste Saura-Film, der nach vollständig eigenem Drehbuch entstand. Es war einer von neun Filmen, die er mit seiner damaligen Lebensgefährtin Geraldine Chaplin, mit der er kurz vor Drehbeginn zu »Cría cuervos…« auch einen Sohn bekam, inszenierte; hier spielte sie in einer Doppelrolle sowohl die erwachsene Ana als auch Anas Mutter. Die Arbeit mit der kleinen Ana Torrent gestaltete sich als schwierig, da das Mädchen Geraldine Chaplin hasste und Saura daher bemüht war, die beiden so wenig wie möglich zusammen spielen zu lassen. Dennoch haben die Mutter-Tochter-Szenen zwischen Torrent und Chaplin eine ganz besonders berührende Intensität. Überhaupt hinterlässt die Kinderdarstellerin den wohl stärksten Eindruck: einsam und allein mit ihrem ernsten und traurigen Gesicht ist sie einer feindlichen Umgebung ausgesetzt.
Die Dreharbeiten fanden im Herbst 1975 ausschließlich an Originalschauplätzen statt. Die Villa mit ihrer abblätternden Pracht, in der Anas Familie haust, hatte Saura einzig aus dem Grund gewählt, weil sie sich in der Nähe zu seiner eigenen Wohnung befand. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten lag der spanische Diktator Franco im Sterben, und im Lande herrschte Unsicherheit über die künftige politische und wirtschaftliche Entwicklung. Als Folge dieser Orientierungslosigkeit konfiszierten die spanischen Zensurbehörden den Film fast ein halbes Jahr lang ohne konkrete Beanstandungen, bevor er im Januar 1976 in Madrid seine Premiere feiern konnte. Der mit minimalem Aufwand gefertigte Film wurde zu Sauras bis dato größtem Publikumserfolg und mit über einer Million Zuschauer zu einem der erfolgreichsten spanischen Filme des Jahres 1976.

Der Kritiker Dieter E. Zimmer schrieb: »Es ist dies der wohl intelligenteste und sensibelste und auch für Nichtspanier zugänglichste Film des einzigen spanischen Regisseurs von Weltgeltung.«

André Schneider