Filmtipp #290: Caótica Ana

Caótica Ana

Originaltitel: Caótica Ana; Regie: Julio Medem; Drehbuch: Julio Medem; Kamera: Mario Montero; Musik: Jocelyn Pook; Darsteller: Manuela Vellés, Charlotte Rampling, Bebe, Nicolas Cazalé, Asier Newman. Spanien 2007.

caótica ana

Ana (Vellés) lebt mit ihrem Vater, dem deutschen Aussteiger Klaus (Matthias Habich), in einer Höhle auf Ibiza. Das lebensfrohe Mädchen wurde von ihrem Vater unterrichtet und ist künstlerisch hochbegabt. Das erkennt auch die französische Kunstmäzenin Justine (Rampling) und bietet ihr ein Stipendium in ihrer Künstlerkommune in Madrid an. Also verlässt Ana die Insel und ihren Vater und reist nach Madrid, wo sie sich rasch einlebt und in Linda (Bebe) eine enge Freundin findet. Dann verliebt Ana sich in Saïd (Cazalé), einen bildschönen Beduinen, der auch in Justines Haus lebt. Im Strudel der vielen neuen Eindrücke werden Anas Träume nun seltsam visionär und beängstigend, oft wird sie von Alpträumen gequält. Aus Neugier lässt sie sich von dem jungen Engländer Anglo (Newman) hypnotisieren und erfährt auf diesem Wege mehr und mehr von ihren früheren Leben, in denen sie an verschiedenen Orten und in verschiedenen Epochen als junge Frau immer gewaltsam durch Männerhand starb und wiedergeboren wurde…

Julio Medem gehört zu meinen liebsten Filmemachern. »La ardilla roja« (1993), »Lucía y el sexo« (2001) und vor allem »Los amantes del Círculo Polar« (1998) haben mein Cineastenleben stark und nachhaltig geprägt. Als 2007 »Caótica Ana« angekündigt wurde, fieberte ich dem Werk regelrecht entgegen — unterbewusst ahnend, dass dies vielleicht der Film meines Lebens sein könnte. Ich lag nicht falsch, meine Vorahnung bestätigte sich. Der Film lief im Herbst 2008 schließlich und endlich auch bei uns. Zwei Wochen lang ging ich allabendlich ins Moviemento, um mir »Caótica Ana« wieder und wieder anzuschauen; ich spürte, ich würde ihn, wenn er erst einmal aus den Kinos verschwunden sein würde, lange nicht wieder zu Gesicht kriegen. Auch hier irrte ich nicht: Der Film ist bis heute nicht in Deutschland auf DVD erschienen und lief auch nicht im Fernsehen. (Es scheint wohl Lizenzprobleme zu geben.) 2015 dann schenkte ich mir die spanische DVD zum Geburtstag.
Thematisch mag der Streifen für viele — auch für mich — in seinen esoterischen Gedanken wohl schwer zugänglich sein. Reinkarnation ist, wie Religion auch, ein zweifelhaftes Terrain. Doch davon abgesehen ist dieser Film eine zweistündige Liebeserklärung an die Frau als beinahe mythisches Wesen, das Kraft und Zartheit in sich vereint wie keine andere Lebensform. Und darüber hinaus verströmt der Film vor allem eines: Liebe. Auch die Liebe zu den Frauen — oder besser: der Frau —, ja, vor allem jedoch die Liebe zur Schönheit, zur Kunst, zur Natur, zum Film als Medium. Jede Einstellung ist so detailverliebt ausgestattet, farblich durchkomponiert und ausgeleuchtet, als sei sie die einzige des Films — so zeigt sich in »Caótica Ana« Julio Medems Genie in voller Pracht. Man erkennt von der ersten Minute, dass dies ein großes Herzensanliegen des Filmemachers war. Der Hintergrund: Im April 2001 verlor Medems Schwester Ana, eine Künstlerin, auf dem Heimweg von ihrer ersten großen Ausstellung bei einem Autounfall das Leben. Alle Gemälde, die wir in »Caótica Ana« sehen, stammen von Ana Medem. Während Julio den Film zu Ehren seiner Schwester vorbereitete, wurde seine Tochter geboren, die er ebenfalls Ana nannte. Und so ist in der Widmung am Ende des Films zu lesen: »Für meine Schwester Ana, die ging… und für meine Tochter Ana, die kam.«

Da Medem Schwierigkeiten hatte, Finanziers für dieses in Inhalt und Form ungewöhnliche und sperrige Werk zu finden, dauerte es beinahe sechs Jahre, ehe »Caótica Ana« zur Welt kam. Die aus verschiedenen Ländern zusammengewürfelte Besetzung arbeitete untertariflich, um mit dabei sein zu können; Charlotte Rampling gab in diesem Film sogar ihr Debüt in spanischer Sprache. Die in Spanien sehr populäre Sängerin Bebe rührt als Anas beste Freundin zu Tränen, Matthias Habich ist wie gewohnt wundervoll, und die Herren Newman und Cazalé stehen in fremder Sprache erstaunlich souverän ihren Mann. Wie man es aber auch drehen und wenden will: »Caótica Ana« gehört vollumfänglich der phantastischen Manuela Vellés, die ihre Figur so facettenreich anlegte, dass es kaum einen Zuschauer geben dürfte, der sich nicht in ihr wiederfinden kann. Eine atemberaubende Erscheinung, deren etwas schiefer Schneidezahn ihrer Schönheit noch eine weitere Nuance verleiht. Sie sprang für María Valverde ein, die schon 2001 für die Rolle verpflichtet wurde, sich im Laufe der Zeit jedoch mit Julio Medem zerstritt und aus dem Projekt aussteigen wollte. Vermutlich war es das Beste, denn man kann sich einfach keine andere Schauspielerin in der Rolle vorstellen als Manuela Vellés. Zweiter Dreh- und Angelpunkt des Ganzen ist die etherische Musik der Engländerin Jocelyn Pook (Wild Side), in der man sich verlieren kann.

Ungerechterweise war »Caótica Ana« kein großer Erfolg beschieden. Man kann es angesichts der Geschichte verstehen, bedauerlich ist es dennoch. Julio Medem wurde beim Filmfestival in Rom für einen Regie-Preis nominiert, doch an den Kinokassen fuhr sein Herzenskind bei weitem nicht das Geld ein, um sein Budget von rund neun Millionen Euro auszugleichen. Bis zu seinem nächsten Film, dem weitaus kommerzielleren »Habitación en Roma« (2010), sollten mehrere Jahre vergehen. Bis heute drehte der inzwischen 57jährige nach »Caótica Ana« außer »Habitación…«, einem Kurzfilm und einigen Musikvideos nur noch einen weiteren Film: »Ma ma« (2015), der trotz Penélope Cruz leider ebenfalls floppte.

Dies ist vermutlich einer meiner persönlichsten Filmtipps — wie beispielsweise 10:30 P.M. Summer oder Shortbus —, deshalb habe ich diesen Beitrag lange hinausgezögert. Man teilt ja nicht gerne sein Innerstes mit jedermann. Doch nun dachte ich mir, wenn Julio Medem sich dergestalt öffnen kann und sich nicht scheut, sein Herz auf die Leinwand zu zaubern, dann sollte ich nicht damit hadern, meine Reaktion darauf zu teilen. Neben Hitchcocks »The Birds« ist dies mein absoluter Lieblingsfilm.

André Schneider