Filmtipp #144: The Fruit Machine – Rendezvous mit einem Killer

The Fruit Machine — Rendezvous mit einem Killer

Originaltitel: The Fruit Machine; Regie: Philip Saville; Drehbuch: Frank Clarke; Kamera: Richard Pope [Dick Pope]; Musik: Hans Zimmer; Darsteller: Emile Charles, Tony Forsyth, Robert Stephens, Bruce Payne, Robbie Coltrane. GB 1988.

Liverpool, 1988. Tief in der Thatcher-Ära ist Nordengland geprägt von Desillusion und Arbeitslosigkeit, alles ist grau, trist und irgendwie eng. Der 16jährige Eddie (Emile Charles) verbringt die Tage mit seiner Mutter Jean (Kim Christie) auf der Couch; mit dem Anschauen alter Filme entfliehen die beiden der Realität. Eddie ist schüchtern, feminin, durch und durch naiv und lebt in seiner Traumwelt, während sein bester Freund Michael (Tony Forsyth) durch seine Vergangenheit als Heimkind und Stricher viel stärker von der dunklen, oft üblen Realität geprägt wurde. Obschon beide schwul sind, ist ihre Liebe rein platonisch. Als Eddie mal wieder von seinem Vater verprügelt wurde, wagen die beiden einen Ausbruch ins Leben. Ihre erste Station ist The Fruit Machine, eine kecke Liverpooler Schwulendisco, die der füllig-liebenswerten Tunte Annabelle (herrlich: Robbie Coltrane) gehört. Nach ein paar unbeschwerten Stunden werden die Jungs Zeugen, wie ein mysteriöser Killer (Bruce Payne) Annabelle mit einer Machete tötet — und werden natürlich bemerkt. Auf ihrer Flucht geraten Eddie und Michael an einen alternden Opernsänger (Robert Stephens), der die beiden mit nach Brighton nimmt, wo es in einem Delphinarium zu einer nächtlichen Begegnung mit dem Killer kommt…

»The Fruit Machine« ist ein modernes Märchen, ein wunderbarer Genre-Mix aus Thriller, (schwuler) Freundschaftsgeschichte und Sozialkritik. Die Produzenten wollten der neuen, durch Aids ausgelösten und von der Thatcher-Regierung forcierten Schwulenfeindlichkeit etwas entgegensetzen, aber glücklicherweise stellt dieser kunstfertig inszenierte Streifen dieses Problem nicht in den Vordergrund. Nein, hier geht es vielmehr um das Recht auf freie Entwicklung, ein Recht, das Michael und Eddie bislang verwehrt wurde. Die Delphine in Eddies Träumen stehen für die von ihm ersehnte Freiheit, die Disco für das ungehindert-hemmungslose Ausleben dieser Freiheit. Der Killer fungiert als Symbol ihrer Zerstörung durch finanzielle Interessen (der Tod des Disco-Besitzers) und den Hass auf Andersartige (die beiden Jungen). Die romantisch delirierende Musik Hans Zimmers evoziert Erinnerungen an »Vertigo« (Regie: Alfred Hitchcock), und auch sonst ist »The Fruit Machine« liebevoll mit Filmzitaten gespickt: So singt und tanzt der filmbegeisterte Eddie in einer Szene Marilyn Monroes »Running Wild« aus Some Like It Hot, schaut sich anfangs mit seiner drallen Mutter »Niagara« (Regie: Henry Hathaway, ebenfalls mit der Monroe) an und hat sein Zimmer mit zahllosen Bildern der Filmgöttinnen aus Hollywoods goldener Zeit ausstaffiert. Seine Mutter behauptet zudem, 1960 beinahe von John Schlesinger für »Saturday Night and Sunday Morning« (Regie: Karel Reisz) besetzt worden zu sein (später stellt der Stiefvater klar, dass Schlesinger gar nicht der Regisseur des Films war: »Der Film stammt von einer Frau, von Carole Rice!«). Das Free Cinema der frühen 1960er Jahre war 1988 kaum noch viel mehr als eine schöne Erinnerung; das englische Kino lag damals für einige Jahre praktisch brach, was unter anderem auch daran lag, dass der Nachwuchs — Stephen Frears, Neil Jordan und andere — zeitweise in die USA abgewandert war.
Von der liberalen Presse wurde dieser kleine Film sehr positiv aufgenommen, besonders aufgrund des ungezwungenen Spiels der beiden debütierenden Hauptdarsteller, deren Karrieren in den folgenden Jahren leider nicht so recht ins Rollen kamen. Emile Charles war 1998 immerhin noch in einer Nebenrolle in »Like it is« (Regie: Paul Oremland) zu sehen, Tony Forsyth arbeitet heute als Casting Director.
Philip Saville, Jahrgang 1930, ist seit 1948 im Filmgeschäft, startete zunächst als Schauspieler, um in späteren Jahren als Autor und Regisseur hinter die Kamera zu wechseln. In der Hauptsache arbeitete er fürs englische Fernsehen und gilt dort mit rund 60 Inszenierungen als einer der renommiertesten Arbeiter. Fürs Kino war Savo — so der Spitzname Savilles — verhältnismäßig selten tätig. In den USA kam »The Fruit Machine« seinerzeit übrigens unter dem Titel »Wonderland« (so der Name des großen Aquariums in Brighton) in den Verleih.

André Schneider