24. Mai 2024

Heute vor 20 Jahren (!) begannen in Potsdam die Deed Poll-Dreharbeiten. Wir hatten die obere Etage einer charmanten Villa in der Schwanenallee gemietet, vor deren Tür der Heilige See lag. Es war eine Arbeit, die mir viel bedeutete, sie war abenteuerlich und aufregend. Die Anfangsszene, in der Ivy (Barbara Kowa) ihrem Bruder (Rainer Maria Wittenauer) gesteht, dass sie ihre Eltern getötet hat, drehten wir auf dem Gelände vom Schloss Glienicke — ohne eine erforderliche Drehgenehmigung. Ich kann mich erinnern, dass wir mit der Kamera über eine hohe Mauer flüchten mussten, als ein Wachmann uns erblickte. Sportlich raffte Barbara ihr weißes Kleid, und ich wartete mit laufendem Motor in meinem Fiat Cinquecento. In der Villa bestückten wir einen leeren Raum mit Requisiten aus unseren Privathaushalten. Ingo, unser Regisseur, brachte ein Bett aus Pappe mit, auf dem wir unsere Sexszenen drehten, ich steuerte Kerzenständer und meine Ganesha-Statue bei und Barbara brachte (teilweise sehr wertvolle) Kunstwerke mit, die wir aufhingen, um dem Raum mehr Seele zu geben. Der Holzfußboden war schön und knarzte heimelig, mir gefielen die Fenster und das üppige Grün davor. Ich erinnere mich an den süßlichen Geruch, an das viele Nacktsein und an eine abenteuerliche Besenstiel-Konstruktion, die unser Kameramann Steffen über dem Bett anbrachte, um unsere Spielchen aus der Vogelperspektive aufzunehmen.
Nathaniel, meine Rolle, war mir so nahe, dass es schmerzte. Wir hatten sechs Monate Vorbereitungszeit, bevor wir zu drehen begannen, und ich ließ mich völlig uneitel auf Nathaniel ein. Die Häutungsszene drehten wir zum Schluss. Dafür hatten wir einen Kellerraum bekommen, vor dessen Fenstern das Gras mannshoch gewachsen war. Wir drehten die ganze Nacht. Am Ende, als Nathaniel ausgeblutet seinen letzten Atemzug tat, ließ ich ihn los. Ein paar Stunden später stand ich zu Hause unter der Dusche, wusch mir die aufgeschminkten Karten und das Filmblut ab und weinte bittere Tränen, weil ich Nathaniel so vermisste. Es war zwei Monate nach Markus’ Tod. Erst viel, viel später wurde mir bewusst, dass ich eigentlich ihn gespielt hatte. Erstaunlich, wie das Unterbewusstsein arbeitet, denn das Drehbuch hatte ich lange vor seinem Selbstmord geschrieben.

Zwei kurze Jahre arbeitete ich eng mit Ingo J. Biermann zusammen. Deed Poll war, bis viele Jahre später One Deep Breath und Bd. Voltaire kamen, meine wichtigste Filmerfahrung, für die ich ihm bis an mein Lebensende dankbar sein werde. Ich würde so, so gerne noch einen Film mit ihm machen, jetzt, zwei Jahrzehnte später, aber soweit ich weiß, filmt er überhaupt nicht mehr. Er ist ein so talentierter, scharfsinniger Mann!
Diese Berliner Jahre möchte ich nicht missen. Die Jahre 2003 bis 2006 waren eine kreative Hochzeit, auch wenn ich heute finde, dass Half Past Ten, Der Mann im Keller und »Glastage« sehr viel besser hätten ausfallen können. Aber es war so viel Vibration in der Luft, die Arbeit mit Ingo, Barbara, Nikolaus, Dominique und Sascia katapultierte mich aus meiner Trauerschwere heraus, ich genoss das Initiieren von Projekten trotz aller Widrigkeiten. Ich war ständig pleite, arbeitete pausenlos, gönnte mir nichts. Da war keine Zeit zum Atemholen, alles war belebt vom künstlerischen Fluss. Oh, die Gespräche! Das kam lange nicht wieder. Die späteren Berliner Projekte, so viel Spaß wir teilweise auch beim Drehen hatten, waren im Prinzip schon zu groß, zu belastend, um eine abenteuerliche Leichtigkeit generieren zu können. Dann 2010, das Alptraumjahr, das sich weit ins kommende Jahr ausweitete und mich beinahe umbrachte. Der Beruf, der mein Zuhause war, war von drei Brandstiftern genüsslich abgefackelt worden. Diesen Schlag, diesen Verrat habe ich nie ganz verwunden. (Lediglich der Fakt, dass die Täter danach künstlerisch nie wieder etwas auf die Beine stellen konnten, tröstet ein wenig.) Für mich war Le deuxième commencement ein zweiter Anfang. Jetzt, 2024, kommt der dritte.

Je ne vois aucun obstacle à notre bonheur

Es ist gar nicht so einfach mit dem ökologischen Fußabdruck. Die Zugfahrt nach Brüssel und zurück hätte knapp 500 Euro gekostet. Der Flieger wäre geringfügig preiswerter gewesen, allerdings hätte man in Frankfurt oder Paris umsteigen müssen. Also mietete ich mir ein Auto. Die Fahrt dauerte an die acht Stunden, da die Brüsseler Innenstadt quasi komplett gesperrt war und das Navi dies nicht wissen konnte. (Mir war nicht klar gewesen, dass in Brüssel am 18. Mai das Pride-Wochenende stattfand.) Nach meiner 80-Stunden-Woche war ich empfindlich müde und gestresst. Das Zimmer im Ibis — 300 Euro für zwei Nächte ohne Frühstück — gab mir den Rest mit den fremden Haaren auf dem Kopfkissen und den schimmeligen Badezimmerfugen.
Aber: Es war schön, nach sechs Jahren endlich wieder in Brüssel zu sein, eine meiner Herzensstädte. Trotz Uringestank und Gedränge. (Ich habe nicht vergessen, dass ich zum Jahreswechsel 2014/2015 beinahe dorthin gezogen wäre.) Das Konzert der Postmodern Jukebox im La Madeleine, der eigentliche Grund meines Brüssel-Besuchs, war ein Heidenspaß. Das Wetter war prächtig, sodass ich nachts noch einen Spaziergang zur Grand-Place machte, mich an der Architektur erfreute und Schokolade für Zuhause kaufte. Am Sonntag war ich im Brel-Museum und entdeckte seine flämischen Chansons. Die Rückfahrt am Montag schlauchte etwas weniger als die Hinfahrt. Alles in allem war es zu viel Stress, zu viel Geld und zu wenig quality time für ein Wochenende. Ich muss lernen, mir für solche Trips noch (mindestens) einen Tag hinterher zu reservieren, um mich zu regenerieren. Schon bei den letzten Fahrten nach Fribourg, Berlin oder Hildesheim hatte ich das gemerkt, aber irgendwie scheine ich aus meinen Fehlern nicht so recht zu lernen…Kaoru Yamada_1

Manchmal juckt es mich, mehr über Politik zu schreiben, aber dann denke ich: Was soll’s? Es äußern sich ohnehin schon zu viele. Muss ich dem Chor noch eine weitere dissonante Stimme hinzufügen? Wer bin ich schon? Nein, ich konzentriere mich auf das, was schön ist. Wie zum Beispiel auf die Bilder von Karou Yamada (siehe oben) und auf die Musik von Vincent Delerm. Habt einen schönen Freitag!

André

P.S.: Vorgestern wurde mein Fahrrad geklaut. Es war das vierte seit meinem Umzug nach Strasbourg. Es nervt.

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