Filmtipp #443: Nachthelle

Nachthelle

Originaltitel: Nachthelle; Regie: Florian Gottschick; Drehbuch: Florian Gottschick, Carsten Happe; Kamera: Jakob Seemann; Musik: Felix Raffel; Darsteller: Anna Grisebach, Benno Fürmann, Vladimir Burlakov, Kai Ivo Baulitz, Gudrun Ritter. Deutschland 2015.

Nachthelle

Ein gottverlassenes Nest irgendwo in der Lausitz, verwaist, ausgestorben. Ein Ort wie am Ende der Welt. Drückende Sommerluft. Ein paar Kohlebagger. Hier liegt das Heimatdorf von Anna (Grisebach), die sich mit ihrem Freund Stefan (Burlakov) dorthin aufgemacht hat. Sie möchte das Dorf noch einmal sehen, bevor es dem Fortschritt weichen muss. Anna und Stefan sind mit Bernd (Fürmann) und dessen Lebensgefährten Marc (Baulitz) verabredet. Bernd stammt auch aus der Gegend und ist mit Anna seit Schultagen befreundet. Zeitweise war diese Freundschaft sogar »mehr« gewesen, was für den jungen, unbedarften Stefan a) neu und b) etwas verunsichernd ist. Man versucht trotz aufkeimender Spannungen, ein entspanntes Wochenende in der vormals idyllischen Gegend zu verbringen. Die satten Wiesen und Wälder, das alte Dorf, alles scheint dem Tod geweiht — die alte Schule von Bernd und Anna ist halb verfallen, die Leichen auf dem Friedhof werden exhumiert, bald wird alles dem Kohletagebau zum Opfer fallen. In der alten Schule wird Anna mit einer verdrängten Schuld konfrontiert, während Stefan sich von der sexuell offenen Beziehung von Bernd und Marc merkwürdig gereizt fühlt, was dem schlitzohrigen Marc — der passenderweise Psychologe ist — Anlass für ein pervers-erotisches Spiel gibt, welches die angeschlagene Anna vollends aus der Bahn wirft…

Der leise, ungewöhnlich gut gespielte Thriller über die Dämonen der Vergangenheit, die man zwar bezwingen, jedoch nie ganz loslassen kann, kommt größtenteils als Kammerspiel daher, das sich ganz und gar auf seine Charaktere kapriziert. Neben Annas Kampf mit der eigenen Schuld umtanzen Florian Gottschick und sein Co-Autor Carsten Happe die Probleme der kontemporären Beziehungswelt: die Diskrepanz zwischen Lust und Liebe, Treue und Verlangen, Erlaubtem und Verbotenem. Da stehen vermeintlich altmodische Konzepte — ironischerweise repräsentiert durch den im Vergleich noch sehr jungen Stefan — der modernen Libertinage gegenüber, die von Bernd und Marc zelebriert wird. Vor der ebenso idyllischen wie gruseligen Kulisse wird ein Kartenspiel der Schuld aufgefächert, das vor allem Annas Welt auf den Kopf stellt. Das alles hat Gottschick mit äußerster Souveränität und einem sicheren Gespür für realitätsnahe Figuren inszeniert. »Nachthelle« war der Diplomfilm des 1981 geborenen Filmemachers und wurde von der Kritik in den höchsten Tönen gelobt. Ab Juni 2015 lief der mitreißende Film, der spannungsreich zwischen psychologischem Drama, Erotikfilm und Mystery-Thriller mäandert, nach einem triumphalen festival run regulär in den deutschen Kinos. Auf DVD ein mehr als würdiger Film für den 1. Januar.

André Schneider

2 thoughts on “Filmtipp #443: Nachthelle

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