Filmtipp #837: Menschliche Dinge

Menschliche Dinge

Originaltitel: Les choses humaines; Regie: Yvan Attal; Drehbuch: Yaël Langmann, Yvan Attal; Kamera: Rémy Chevrin; Musik: Mathieu Lamboley; Darsteller: Ben Attal, Suzanne Jouannet, Charlotte Gainsbourg, Mathieu Kassovitz, Benjamin Lavernhe. Frankreich 2021.

les choses humaines

»Les choses humaines« ist Gerichtsdrama und Gesellschaftsthriller zugleich. Basierend auf dem gleichnamigen Roman Karine Tuils aus dem Jahre 2019, welcher sich am Fall Stanford orientierte, und angesiedelt in der Pariser Bourgeoisie in der Zeit unmittelbar nach #MeToo (in Frankreich: #BalanceTonPorc), wurde Yvan Attals erste Regiearbeit im »ernsten Fach« ein ebenso schockierender wie differenzierter Beitrag zum Thema sexuelle Gewalt. Getragen wird der formal solide gestaltete Film von den beiden jungen Hauptdarstellern Ben Attal (Sohn des Regisseurs und Charlotte Gainsbourg) und Suzanne Jouannet, die hervorragend spielen.

Trotz Scheidung sind die Farels eine wohlsituierte Bilderbuchfamilie: Jean Farel (Pierre Arditi) ist ein bekannter Fernsehjournalist mit eigener Sendung, seine Ex Claire (Gainsbourg) eine ebenso umstrittene wie gefeierte feministische Essayistin und ihr gemeinsamer Sohn Alexandre (Attal), 22 Jahre jung, studiert an einer kalifornischen Spitzenuniversität und besucht gerade seine Eltern in Paris, als es eines Vormittags vehement an der Tür klingelt: Alexandre wird verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, am Abend zuvor Mila Wizman (Jouannet), die 17jährige Tochter des neuen Lebensgefährten ihrer Mutter, vergewaltigt zu haben, das Mädchen habe im Beisein ihrer Mutter (Audrey Dana) Anzeige erstattet. Alexandre fällt aus allen Wolken: Für ihn war der Quickie mit Mila einvernehmlicher Sex. Die Prominenz der Eltern ist ein gefundenes Fressen für die Medien, Jeans chauvinistische Äußerung, der Trubel wegen »20 Minuten Spaß« sei reichlich übertrieben, sorgt für einen Shitstorm. Die Existenzen der Familien Farel und Wizman geraten in den kommenden Monaten aus den Fugen…

Wo fängt eine Vergewaltigung an? Was genau ist sexueller Konsens? Wo liegen die Grenzen von Lust? »Les choses humaines« stellt diese und weitere Fragen, indem er geschickt die unterschiedlichen Sichtweisen auf die schicksalhafte Partynacht gegenüberstellt. Ungefähr in der Mitte des Films wird klar, dass es hier keine Gewinner gibt, sondern nur Verlierer. Die Wahrheit, ob es nun eine Vergewaltigung, ein sexueller Übergriff oder einvernehmlicher Geschlechtsverkehr war, kann das Gericht nicht ermitteln, die Tat selbst bleibt als »blinder Fleck« im Film diffus und uneindeutig. Die deutsche Kritik, die insgesamt mit dem Film wenig anfangen konnte, nahm Ende 2022, als der Thriller in den bundesdeutschen Kinos startete, daran großen Anstoß und sah darin »eine Verhöhnung des Opfers« (Christiane Peitz im »Tagesspiegel«). Der Rezensent Ulf Lepelmeier hielt Attals Film für überlang und didaktisch. Inszenatorisch beschreitet Attal keine neuen Wege, weiß aber, die Perspektiven und Zeitsprünge gekonnt miteinander zu verweben. Dafür lässt er seinem Ensemble reichlich Platz für zum Teil brillante Gestaltungsmomente. Charlotte Gainsbourg ist als Alexandres betroffene Mutter sehr emotional und glänzt bei ihrem Auftritt vor Gericht als eine Frau, die zwischen ihrer feministischen Überzeugung und ihrer Rolle als Mutter zerrissen ist und letztliche ihre Glaubwürdigkeit als öffentliche Stimme aufgrund der (vermeintlichen) Tat ihres Sohnes verloren hat. Ben Attal ist als Alexandre zugleich liebenswürdig und arrogant, charmant und leichtfertig. Er ist sich zuerst keiner Schuld bewusst, trägt sein kultiviertes Auftreten vor sich her, und begreift vielleicht zu spät, was er angerichtet hat. Suzanne Jouannet balanciert als mutmaßliches Opfer zwischen Wut und Scham, ihre psychische Labilität ist glaubhaft und ergreifend. »Les choses humaines« ist ein Zeitgeist-Film, der zum Nachdenken anregt und äußerst sehenswert ist.

André Schneider

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