Filmtipp #135: Weiße Lilien

Weiße Lilien

Originaltitel: Weiße Lilien; Regie: Christian Frosch; Drehbuch: Christian Frosch; Kamera: Busso von Müller; Musik: Andreas Ockert; Darsteller: Brigitte Hobmeier, Johanna Wokalek, Martin Wuttke, Xaver Hutter, Erni Mangold. Deutschland/Österreich/Luxemburg/Ungarn 2007.

Weiße Lilien

»Neustadt ist überall. Neustadt ist die Gegenwart der Zukunft von gestern.«

Eine verstörende Melange aus Orwell’scher Science Fiction — obwohl wir »1984« längst überholt haben — und post-9/11 Paranoia-Polit-Thriller ist dieser »leise Schocker«, der seinerzeit im Kino leider unterging.
     In »Weiße Lilien« ist alles ein bisschen übersexualisiert, die Erotik flirrt durch die leeren Korridore, und doch scheint hier jede und jeder abgestumpft. Die Stimmen, die im Fahrstuhl die Etagen ansagen, klingen, als würden sie einen Porno synchronisieren, und in einer Schlüsselszene verführt Erni Mangold die verwirrte Brigitte Hobmeier zu einem lesbischen Kuss — einem der sinnlichsten der Filmgeschichte. Die sanfte Jazzmusik kleckert durch die kalt durchgestylten Bilder, legt mit ihrer Sinnlichkeit und Wärme deren verwundbaren Kern frei und unterstreicht die sexy Grundierung hinter all der Sterilität.
     Der Anfang erinnert sehr an »Sliver« (Regie: Phillip Noyce), denn auch hier stürzt zu Beginn eine schöne junge Frau aus ihrem Penthouse in den Tod. Sie landet in einem Blumenbeet, fotogen tropft das Blut von den Blüten der weißen Lilien. In ihrer nun leerstehenden Wohnung sucht Hannah Schreiber (Hobmeier) Zuflucht vor ihrem gewalttätigen Angetrauten (Hutter). Nach einer Begegnung mit der mysteriösen Anna (Wokalek) wird Hannahs Leben zunehmend bizarrer. Ein Attentat auf einen Politiker versetzt die Bürgerinnen und Bürger von Neustadt in paranoide Zustände, die Geheimpolizei scheint jede und jeden zu verdächtigen.

Dass es von Zeit zu Zeit wirklich außergewöhnlich gute, meisterhafte deutschsprachige Filme in die Kinos schaffen, stellte Christian Frosch mit »Weiße Lilien« mehr als eindrucksvoll unter Beweis. 2006 gedreht und im September 2007 in Toronto unter dem Titel »Silent Resident« uraufgeführt, hatte (leider) auch dieser Film einen langen, steinigen Weg, bevor er endlich regulär in den Kinos anlaufen durfte. Ich zitiere aus dem Presseheft: »In faszinierenden Bildern katapultiert ›Weiße Lilien‹ nicht nur seine Hauptfigur, sondern auch den Zuschauer in eine tour de force aus Hochspannung und nervenaufreibender Intensität. Es gelang ein fesselnder Verschwörungs- und Liebes-Thriller über die Angst und Paranoia, die sich tief im Herzen einer modernen Überwachungsgesellschaft festgesetzt hat. ›Weiße Lilien‹ zeigt eine traumatisierte Stadt, die sich abgegrenzt hat. Eine auf sich selbst bezogene Gesellschaft, die sich zu arrangieren gelernt hat, in der die Bedrohung durch den so genannten Terror zum Alltag geworden ist. Die Konsequenz der Menschen ist der Hunger nach Sicherheit und Kontrolle. ›Weiße Lilien‹ verwendet Motive und Techniken des Thrillers, verweist nebenbei auf Kunst-Welten und Konzepte von Gropius über Beuys bis David Lynch. Der Film bewegt sich zwischen sozialkritischer Genauigkeit, cineastischem Alptraum und malerischer Bildkomposition und wird so auf zahlreichen Ebenen lesbar. In der Auflösung von Traum und Wirklichkeit entwickelt sich eine eigene Poesie der Entfremdung. Man kann sich beim Zuschauen verlieren oder finden in diesem Labyrinth.«
     All dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. Die an die düstersten Filme von David Lynch und Jaume Balagueró erinnernden Bildfolgen, das Sounddesign (Michael Palm und Sebastian Schmidt) und die Kulisse selbst (gedreht wurde in Alt-Erlaa) sorgen für ein nachhaltig beklemmendes Gefühl, das sich auch nach dem Abspann nicht verliert. Frosch zeigt nach »Die totale Therapie« (1996) und »K.af.ka fragment« (2001) erneut, dass er zu den ganz, ganz großen Filmemachern Europas zählt. Mit Brigitte Hobmeier, der betörend schönen Johanna Wokalek, Theaterstar Martin Wuttke (als Arturo Ui hat ihn wohl jeder gesehen?), Peter Fitz, Gabriel Barylli, Ursula Ofner, dem unvergessenen Günther Kaufmann und Xaver Hutter ist »Weiße Lilien« zudem auch noch brillant besetzt. Ein cineastischer Hochgenuss!

André Schneider